Die Erkenntnis der Geschichtlichkeit nicht nur der Erde, sondern insbesondere des Lebendigen, gehört neben den Entdeckungen der Astronomie mit Kopernikus, Galilei, Newton, Einstein zu den großen Kulturleistungen des Menschen. Diese entstehen nicht im einsamen Elfenbeinturm, sondern erklären sich aus den jeweiligen kulturellen, ideologischen und wissenschaftlichen Umständen der Zeit.

Drei Phasen der Evolutionstheorie

Rupert Riedl (emeritierter Ordinarius für Zoologie in Wien) stellt ebenjene kulturgeschichtlichen Hintergründe unseres Verständnisses der Evolution im vorliegenden Band in einem ebenso breiten wie profunden Panorama dar. Er gliedert die Kulturgeschichte der Evolutionstheorie in drei Phasen: eine heroische Phase, eine ideologische und eine systemische Phase. Zur dritten Phase hat er in "Die Ordnung des Lebendigen" (1975) selbst beigetragen. Er konnte zeigen, dass die Kausalzusammenhänge im gesamten evolutiven Geschehen durch Rückwirkungen weitaus komplexer sind, als viele Evolutionstheoretiker noch immer glauben.

Systemtheoretischer Ansatz

Viele Fragen der Evolution (Atavismus, warum weiß ein Insektenei, wo vorne und hinten ist?) lassen sich von einer von Riedl mitgeprägten Systemtheorie (1975) heute schon darstellen. Diese beinhaltet auch eine Theorie der kognitiven Anpassung: Wie sollen wir ohne Wissen über unseren Wahrnehmungsapparat eine Ahnung davon bekommen, dass unsere schrittweise Erkenntnis der Naturgeschichte der realen Welt keine Erfindung, sondern das Bild auf einem historisch entstandenen Spiegel ist, dessen "Rückseite" man naturwissenschaftlich untersuchen kann? Dies ist Thema einer evolutionären Erkenntnislehre, zu der Riedl entscheidend beitrug. (Robert Kaspar/DER STANDARD, Printausgabe, 20.8.2003)