Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts verfestigten sich in den Philosophen John Locke und Montesquieu zwei Erkenntnisse: Einerseits liegt es offenbar zeitlos in der Natur des Menschen oder des Staates, nach immer mehr Macht zu streben. Andererseits besteht die ständige Gefahr der Entartung dieser Macht zur Willkürherrschaft und Unterdrückung.

Es entstand die Lehre von der Gewaltenteilung. Diese gipfelte in der Überlegung, dass die Freiheit des Individuums nur dann garantiert ist, wenn Macht auf verschiedene gesellschaftliche Kräfte verteilt wird.

Folge war die Aufteilung der Staatsgewalt auf Gesetzgebung (Parlament), Verwaltung (Regierung) und Gerichtsbarkeit (Justiz). Die Entwicklung hat dazu geführt, dass die Trennlinie zwischen Regierung und Parlament beseitigt worden ist: Weil beide derselben politischen Partei zugehören, bilden sie nur noch ein Team willfähriger Partner.

Locke hat es vorausgesehen: "Hätten dieselben, die das Gesetz erlassen, auch die Kompetenz, die Entscheidungen im Einzelfall zu zu treffen, so könnten sie sich selbst von dem Gehorsam gegen die Gesetze, die sie geben, ausnehmen und das Gesetz in seiner Vollziehung ihrem eigenen privaten Vorteil anpassen." Ein Leser, dem die Autorenschaft dieses 1689 formulierten Satzes nicht bekannt ist, könnte darin eine Beschreibung der aktuellen politischen Situation Italiens erblicken.

Aus der Reduzierung der Staatsgewalten auf eine faktische Zweiteilung folgt, dass der Trennlinie zur dritten Staatsgewalt und dieser Staatsgewalt selbst zunehmend die Funktion des Garanten der individuellen Freiheit zukommt. Damit sie diese Aufgabe auch erfüllen kann, muss die Justiz von jedem rechtlichen, aber auch faktischen Einfluss einer Regierung freigehalten werden.

Was nun den rechtlichen Einfluss anlangt, bieten die Verfassungen die entspre chenden Garantien. Unter dem Begriff der "richterlichen Unabhängigkeit" wird die Unabsetzbarkeit, Unversetzbarkeit und Weisungsungebundenheit der Richter normiert. Um hier gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Die richterliche Unabhängigkeit ist nicht etwa ein Privileg der Person des Richters. Sie ist vielmehr ein in jahrhundertelangen Kämpfen den Mächtigen abgerungenes Privileg des Bürgers, dass seine Rechtssache nicht nach fremden Interessen, sondern allein nach dem Gesetz beurteilt wird.

Begehrlichkeiten

Dass daraus immer wieder Konfliktsituationen mit Machtansprüchen von Regierenden resultieren, zeigt nicht nur das aktuelle Beispiel Italien. Seit jeher und auch gegenwärtig liegt es im Interesse von Regierenden, die Justiz unter ihren Einfluss zu bringen. Als Beleg genügt die Erinnerung an Sprüche wie den vom "Zurechtstutzen der Justiz". Die Versuche, die Gerichtsbarkeit unter (politische) Kontrolle zu bringen, laufen bislang jedoch abseits medialer Wahrnehmungen ab.

Keine Regierung, die auch nur den Schein demokratiepolitischen Anstandes wahren möchte, würde es wagen, unter den Augen der Öffentlichkeit die verfassungsrechtlichen Garantien der Unabhängigkeit der Rechtsprechung anzutasten. Der Aufschrei der Medien wäre gigantisch und der Ruf der "Bananenrepublik" eingehandelt.

Umso diffiziler wird am rein faktischen Einfluss gebastelt. Hiefür bieten sich - und das gilt nun auch für Österreich -zwei effiziente Möglichkeiten an. Die erste liegt darin, die Justiz personell auf die Inte^ressen einer Regierung auszurichten. Das Recht zur Er^nennung von Richtern kommt dem Justizminister - also einem politischen Organ der Verwaltung - zu. Der Staatsbürger hat es daher mit Richtern zu tun, die in ihrem Berufsverlauf vom Wohlwollen eines Ministers und dessen Bürokratie abhängig sind.

Der einzelne Richter darf sich durchaus den Luxus einer unabhängigen Rechtsprechung leisten - dann hat er beste Chancen auf eine Karriere zur Aburteilung von Hühnerdieben. Schwebt ihm eine Laufbahn anderer Art vor, hat er unaufgefordert zu wissen, welche Art von Verhaltensweise von ihm erwartet wird.

Die zweite Art potenzieller Einflussnahme geht über die bloß materiellen Folgen gelungener Karrieren weit hinaus. Richter stehen unter einem stringenten Disziplinarrecht, welches von weisungsgebundenen Organen der Justizverwaltung wahrgenommen wird. In dessen Rahmen werden die Vorgaben zur zeitlichen und quantitativen Erfüllung der richterlichen Aufgaben getätigt. Folge ist, dass die Verwaltung festlegt, in welcher Zeit ein Richter wie viele Akten zu erledigen hat.

Wird nun das Arbeitsvolumen - vorzugsweise mithilfe des Arguments der Einsparungen - so ausgeweitet, dass es nicht mehr bewältigt werden kann, ist der Richter von der Verwaltung jederzeit disziplinär angreifbar. Mit anderen Worten: Die Verwaltung kann nun ihr genehme Richter "in Ruhe lassen", andere aber "herausschießen". Im Unterschied zur ersten Variante - nämlich der Einflussnahme auf die Karriere je nach Gefälligkeit und Gefügigkeit - wird bei der zweiten Methode nicht nur auf wirtschaftliche Fragen einer prinzipiell gesicherten Existenz, sondern auf diese Existenz selbst gezielt.

Es bleibe der Fantasie des Lesers überlassen, zu beurteilen, welches Gewicht der dann nur noch auf dem geduldigen Papier verbleibenden Unabhängigkeit der Rechtsprechung beigemessen werden kann.

Ein Bürgerrecht

Eine auf faktischem Wege herbeigeführte Aushöhlung der Unabhängigkeit der Rechtsprechung hätte einen Rückfall der Freiheitsgarantien der Bürger um Jahrhunderte zur Folge. Will man dies verhindern, muss die Justiz durch legistische Maßnahmen jedem Einfluss der Verwaltung entzogen werden.

Die Ernennung von Richtern durch eine Regierung oder auch die Einflussnahme auf richterliche Berufskarrieren ist mit den Freiheitsgarantien der Bürger nicht weiter vereinbar. Als Lösung sind unabhängige Institutionen zu fordern, die unmittelbar demokratisch legitimiert nach objektiven Kriterien und unter öffentlicher Kontrolle Personalentscheidungen treffen.

Die Justiz braucht auch keine ministeriellen Weisungen unterstehende Verwaltung. Sie ist vielmehr in der Lage, allenfalls unter der Kontrolle des Parlaments oder des Rechnungshofes, sich selbst zu verwalten. Seit die Unabhängigkeit der Rechtsprechung ein Bestandteil demokratischer staatlicher Gemeinwesen wurde, war sie auch Angriffen von Mächtigen jedweder Art ausgesetzt. Schließlich bildet sie - siehe wiederum das Beispiel Italien - den wesentlichsten Störfaktor ungehemmter Machtentfaltung. Der Kampf um ihre Verteidigung ist heute wie damals zu führen. Wird er verloren, werden sich die Freiheiten des Individuums im 17. Jahrhundert wiederfinden.

(DER STANDARD, Print, 19.08.2003)