Peitsche statt Zuckerbrot lautet in der Türkei derzeit offenbar die Losung für den Umgang mit dem Menschenrecht Meinungsfreiheit: In der Vorwoche die grimmige Ankündigung des durch Korruptionsvorwürfe angeschlagenen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, künftig die Internetseiten von Facebook und Twitter sperren zu wollen. Anfang dieser Woche dann überraschend die vorzeitige Freilassung von sechs Journalisten. Seit Mitte der Woche jedoch wird wieder Tränengas übelster Sorte gegen Demonstranten anlässlich der Beerdigung des 15-jährigen Berkin Elvan eingesetzt, der im Juni vergangenen Jahres von einer Tränengasgranate am Kopf getroffen worden war und seitdem im Koma lag.

Der damals 14-jährige Sohn eines Textilarbeiters war während der Gezipark-Demonstrationen an einem Sonntagmorgen unterwegs gewesen, um Brot für die Familie zu kaufen. Berkin Elvan trug einen Schal vor Mund um Nase, um sich vor der durch Tränengas verpesteten Luft zu schützen. Der Ministerpräsident behauptet deswegen nun, der Teenager sei Mitglied einer terroristischen Organisation gewesen, der von der Polizei zu Recht ins Visier genommen worden sei. Kein Wort des Bedauerns, kein Wort des Mitleids gegenüber der Familie. Die Mutter des Teenagers hat ihre eigene Sicht der Dinge. Sie sieht in Recep Tayyip Erdogan den Mörder ihres Sohnes.

Wer nicht für mich ist, ist ein Feind

Über zwei Millionen Menschen sind seit dem 12. März in immerhin 53 türkischen Städten auf die Straße gegangen, um gegen die restriktive Politik von Premier Erdogan zu demonstrieren. Gemessen an der Gesamteinwohnerzahl der Türkei – knapp 77 Millionen Menschen – sicher nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, dennoch kein geringer. Es sind dies nicht nur Trauerkundgebungen, es sind zugleich Proteste gegen einen Ministerpräsidenten, der zu immer drastischeren Mitteln greift, um Meinungsfreiheit zu unterbinden. Ende März finden in der ganzen Türkei Kommunalwahlen statt, anschließend will Erdogan sein "Problem" mit den Internetforen lösen.

Wer nicht für mich ist, ist mein Feind, scheint Erdogans Devise zu sein. Konstruktive mediale Kritik ist nicht erlaubt, Medien- und Meinungsfreiheit passen nicht ins Konzept. Im Sommer steht die Wahl des Staatspräsidenten an, ein Amt, das Erdogan für sich selbst beanspruchen möchte. Beliebt macht er sich mit der Diffamierung eines nach neun Monaten Koma gestorbenen Polizeiopfers nicht. Auch nicht durch sein Vorhaben, die Kommunikation via Internet zu unterbinden, die Bevölkerung damit unter einen "Glassturz" zu stellen.

Da hilft auch nicht, dass Anfang der Woche sechs prominente Journalisten plötzlich freigelassen wurden. Allesamt hatten in der Causa "Ergenekon" recherchiert, auf der Suche nach Licht im Dunkel rund um diese mysteriöse, mutmaßlich ultranationalistische Organisation, der auch hohe Militärs angehört haben sollen. Nichts Genaues über diese Organisation weiß man noch immer nicht, auch leider nicht, wer da tatsächlich mit wem gegen wen auf welche Weise gekungelt hat. Seltsam. Die Freilassung der Journalisten überraschte. Vielleicht galt es einfach, Reihen zu schließen.

"Journalisten sind keine Terroristen"

Allerdings: 50 andere Journalistinnen und Journalisten sind nach wie vor eingesperrt. Diesen wird vornehmlich Nähe zu kommunistischen Gruppierungen und der kurdischen PKK unterstellt. Nicht wenige sind Justizopfer aufgrund Falschaussagen seitens der Exekutive. Auch in der Türkei hat das Wort eines Polizeiorgans mehr Gewicht als das eines Bürgers, einer Bürgerin.

"Journalisten sind keine Terroristen" lautet eine Petition, auf die der niederländische Musiker Aktan Erdogan mit der seiner Mutter gewidmeten Komposition aufmerksam macht.

"Anne Gunaa" lautet der Titel dieses via Youtube verbreiteten überaus berührenden musikalischen Aufrufes. Aktan Erdogan kämpft damit für die Freilassung seiner Mutter Fusun Erdogan, die 1989 in die Türkei zurückgekehrt war. Ihre damalige Hoffnung, dass Medienfreiheit und Menschenrechte dauerhaft in diesem Land geachtet werden würden, wurde inzwischen bitter enttäuscht.

Anne Gunaa – A song by Aktas Erdogan for his mother Fusun Erdogan

Die Komposition ist eine musikalische Elegie, ein Sohn gedenkt seiner Mutter. In englischen Untertiteln wird die tragische Geschichte von Fusun Erdogan erzählt, ausgesetzt staatlicher Willkür und willigen Richtern.

Fusun Erdogan hatte nach ihrer Rückkehr in die Türkei den pro-kurdischen freien Radiosenders "Özgür Radyo" gegründet. 2006 war sie in Izmir von Polizisten in Zivil auf offener Straße gekidnappt worden, mit verbundenen Augen in ein entlegenes Haus in der Stadt Nazilli gebracht und dort gezwungen worden, sich mit dem Gesicht nach unten auf den Fußboden zu legen. Sie war, wie sich herausstellte, nicht die einzige, der so geschah. Anschließend wurde Fusun Erdogan in eine Polizeistation gebracht, von dort ins Gefängnis.

Begründung: Mitgliedschaft einer terroristischen Organisation, deren Führungskräfte bei einem Meeting in dem genannten Haus in Nazilli fest genommen worden seien. Am 5. November 2013 – also nach sieben langen Jahren – wurde Fusun Erdogan verurteilt: lebenslange Haft, zusätzliche 789 Gefängnisjahre sowie eine Geldstrafe in der Höhe von umgerechnet 450.000 Euro. Eine rechtsstaatliche, eine menschenrechtliche Farce. (Rubina Möhring, derStandard.at, 16.3.2014)