Wien - Das Band ist geringfügig breiter als die rechte große Zehe. Die nächste Zehe rechts, quasi die Zeigezehe, hat nur noch zur Hälfte auf der Leine Platz. Wien liegt dem Sportler praktisch zu Füßen, 35 Meter geht es unter dem Band in die Tiefe. "Das ist schon eine mentale Geschichte", sagt Thomas Spöttl. "In dem Moment, in dem du von der Brüstung auf das Band steigst, kämpfst du gegen Instinkte. Das Herz sagt: 'Geh raus', der Kopf sagt: 'Bleib da.' Und wenn du oben auf dem Seil stehst, verändert sich die Welt."
Ohne Zweifel ist das Panorama von der Dachterrasse des Flakturms im Wiener Esterházypark für Besucher des Hauses des Meeres etwas Besonderes. Vertretern der Sportart Slackline wie Thomas Spöttl ist das nicht atemberaubend genug. Sie spannen zwischen den exponierten Stellen der Plattform Bänder und genießen als moderne - und gesicherte - Hochseiltänzer die Aussicht. Besucher der Dachterrasse bekommen eine außergewöhnliche Show geboten. "Wobei ich von der Aussicht und den Zuschauern nicht viel mitbekomme", sagt Spöttl. "Ich bin so konzentriert, dass ich mich fast wie in Trance bewege."
Das Frühlingswetter der letzten Tage wurde von Mitgliedern der Vienna Slackliners wieder für eine Übungseinheit in luftiger Höhe genutzt. Legal, wie Spöttl, 2009 einer der Gründungsmitglieder des Vereins, anmerkt: Man habe die Stadtverantwortlichen und den privaten Hausmieter in vielen Gesprächen davon überzeugt, "dass wir wissen, was wir da machen". Von Leichtsinn will man nichts hören: Sicherheit geht bei den akrobatischen Abenteuern, die rund ein Mal im Monat auf dem Flakturm stattfinden, vor.
Das Seil und die Polizei
Nicht ganz legal waren vorangegangene Guerilla-Aktionen der Grenzgänger, den Wienfluss im Stadtpark auf einem Seil zu überqueren. "Es standen plötzlich zehn Polizisten vor uns", sagt Spöttl. "Sie haben uns Können und Handwerkzeug bescheinigt, uns aber auch freundlich klargemacht, dass das jetzt nicht geht." Um das gute Klima mit der Stadt nicht zu vergiften, wird seither von Alleingängen abgesehen.
Größtenteils wird natürlich in Bodennähe balanciert. Es reichen zwei Bäume und eine Slackline-Ausrüstung, um die Stadt zu einem Spielplatz umzufunktionieren. Bäume gibt es in Wien viele.
Das birgt für die derzeit rund 800 regelmäßigen Slackliner in der Stadt viele Möglichkeiten, aber auch Verantwortung. Denn die Gefahr, bei nicht sachgemäßer Anwendung der Schlingen junge Bäume zu verletzen, ist vor allem im Frühjahr gegeben. Das Stadtgartenamt (MA 42) hat deswegen eigene Slackline-Parks angelegt. Auf der Zirkuswiese im Prater, im Kongress- oder Türkenschanzpark wurden Baumstämme in die Erde gegraben - mit dem Zweck, Slacklines zu spannen.
Geübte Slackliner, die mit einem Baumschutz umgehen können, sind auf der Suche nach größeren Herausforderungen. "Bei der Festwiese auf der Donauinsel haben wir einen Platz gefunden, wo wir ein Seil über 248 Meter spannen können", sagt Spöttl. "Da ist man rund zehn Minuten hoch konzentriert unterwegs." Seile werden an der Alten und Neuen Donau auch über Wasser gespannt. "Wir machen das auf sehr hohem Niveau", sagt Spöttl. "Aber es ist immer noch ein Hobby." (David Krutzler, DER STANDARD, 12.3.2014)