Daniel Tammet hält den Europarekord im Aufsagen der Pi-Nachkommastellen. Viel lieber redet er über Literatur, die ihm half, sich Empathie anzueignen.

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Daniel Tammet: "Die Poesie der Primzahlen". München 2014, C. Hanser, 318 Seiten, € 20,50

Cover: C. Hanser

Daniel Tammet gilt als "Savant", als einer seltenen Menschen, die über eine Inselbegabung verfügen. Das verhilft ihm zum Beispiel dazu, enorm große Zahlen in kürzester Zeit im Kopf auszurechnen. 2004 stellte er den noch gültigen Europarekord im Rezitieren der Zahl Pi auf - mit über 20.000 Stellen, die er fünf Stunden lang vor einem größeren Publikum aufsagte.

Der 35-Jährige ist aber auch Bestsellerautor: Die Gesamtauflage seiner Bücher beträgt mehr als eine Million Exemplare. Sein neuestes Werk heißt Die Poesie der Primzahlen, zu dessen Präsentation der Engländer nach Berlin angereist ist. Beim Treffen in der Bibliothek des Hotels Angleterre wirkt der betont freundliche Mann mit der schmalen Statur und den runden Brillengläsern allerdings nicht unbedingt wie jemand, der viel Routine hat im Umgang mit den Medien.

Tammet spricht leise mit einem leichten Londoner Akzent, der nicht aufgesetzt wirkt. Gleichzeitig klingen seine Sätze oft ein wenig einstudiert. Als er von seiner Kindheit als ältestes von neun Geschwistern erzählt, beeilt er sich, auf seinen Autismus zu sprechen zu kommen. Und auf sein Anderssein, von dem er nicht gewusst habe, wo es herrühre.

Er sei, so sagt er selbst, "sehr schüchtern" gewesen, aber auch "sehr intelligent". Man merkt diesem leisen und zurückhaltenden Mann an, wie sehr er sein Leben lang in diese eine Rolle des Außenseiters gedrängt wurde - jene Rolle, die ihn nun so interessant für die Welt macht.

Die Medien und die Verlage helfen dabei kräftig mit, dieses Image aufrechtzuerhalten. Kaum ein Porträt über Tammet, das nicht eingehend auf seine Genialität, seine enormen Rechenfähigkeiten und seinen ungewöhnlichen Bezug zu Zahlen eingeht, der auf seinem Autismus beruht.

Lieber Künstler als Rechner

Doch Daniel Tammet möchte kein Genie sein. Es sei eines der vielen Missverständnisse über ihn, so betont er, dass er gemeinhin als "Rechengenie" bezeichnet werde. Viel lieber möchte er als Künstler, als Schriftsteller wahrgenommen werden. Als wir auf das Thema Bücher zu sprechen kommen, ist er entsprechend begeistert.

Tammet stammt aus ärmlichen Verhältnissen, seine Vorbilder für das Schreiben hat er sich bereits als Kind selbst gesucht. "Es ist das erste Mal, dass meine Familie einen Schriftsteller hervorgebracht hat." Bücher hätten ihm schon in der Kindheit eine andere Welt eröffnet, von der er selbst sagt, dass sie für ihn nie selbstverständlich gewesen sei. Es sei vor allem das Gefühl für Empathie gewesen, das er sich anhand von Biografien und historischen Romanen angeeignet habe. Als Vorbilder nennt er den polnischen Autor Ryszard Kapuscinski und den australischen Dichter Les Murray. "Der ist selbst Autist, und seine Werke übersetze ich gerade ins Französische."

Tammet fasziniert die Geschichte - und die Geschichten. Und so bewundert er an anderen Autoren, wie sie es schaffen, die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion spielerisch verschwimmen zu lassen. Mathematiker hingegen habe Tammet nie werden wollen. "Und auch die Geschichte der Mathematik interessiert mich nicht besonders."

Das ist erstaunlich, handelt doch sein neues Buch von lauter Geschichten und Anekdoten aus dem Reich der Mathematik. Für seine Geschichten unternimmt Tammet Exkurse in die Sprachwissenschaft, die Orientalistik, die Ethnologie und die Geschichte, die beim Leser Schwindel erregen können, aber auch reichlich Irritation. Da wird schon gerne einmal ein Zeitsprung von über 2000 Jahren auf wenigen Seiten gemacht.

Von Siddhartha zu Google

Ist man als Leser gerade noch in der Welt von Pythagoras, Euklid und dem antiken Griechenland mit seinen "prozessfreudigen Bürgern und unberechenbaren Volksversammlungen", erfährt man kurz darauf, was Abraham Lincoln über den amerikanischen Bürgerkrieg zu sagen hatte. Oder man liest über den indischen Prinzen Siddhartha Gautama (vulgo "Buddha" ), der Sandkörner zählt, um dann gleich darauf bei der Firma Google und dem Ursprung ihres Namens (1 googol ist eine Zahl mit 100 Nullen) zu landen.

Die Quellen, die Tammet verwendet hat, sind größtenteils nicht nachvollziehbar. Er selbst sagt: "Das Internet." Etwas mehr historischer Tiefgang hätte an einigen Stellen nicht geschadet. Denn zugleich sind die erwähnten Persönlichkeiten, die im Buch auftauchen, nicht genug verfremdet worden, um sie zum Gegenstand einer literarischen Erzählung zu machen.

Die Poesie der Primzahlen beginnt mit einer persönlichen Anekdote und endet ebenso mit einer. Dazwischen reihen sich Episoden aus Tammets Leben neben denen über historische Figuren. Tammet hat die Reihenfolge seiner "Schlaglichter", wie er seine Anekdoten nennt, nicht selbst ausgesucht, sein Lektor hat dies für ihn getan: "Es heißt über Autisten wie mich, wir könnten keine fiktionale Literatur verfassen."

Kaum eine Rezension auch seines neuen Buches, die nicht einer Lobeshymne gleicht. Manche lassen sich gar zu absurden Behauptungen hinreißen - etwa der, dass mit Menschen wie Tammet die Mathematik über die Geisteswissenschaft gesiegt habe. Dabei gilt die Mathematik historisch betrachtet als die älteste Geisteswissenschaft überhaupt.

In der neuerdings medial geschürten Begeisterung für Mathematik scheint Tammet jedenfalls die ideale Verkörperung des Mathematikgenies, das über beinahe magische Kräfte verfügen soll. Ob er diesem Bild auch tatsächlich entspricht oder entsprechen möchte, steht auf einem anderen Blatt.

Am Ende unseres Gesprächs gesteht Tammet, dass er sich oft verrechne, wenn er im Kopf mit mehrstelligen Zahlen jongliere. "Nur schreibt das eben nie jemand über mich." (Anja Sattelmacher, DER STANDARD, 12.3.2014)