Greifswald - Rund 3.600 Menschen wurden Ende 2011 in Deutschland in persönlichen Face-to-Face-Interviews ausführlich zu ihrer Einstellung zu den Krankheitsbildern Schizophrenie, Depression und Alkoholismus befragt. Das Ergebnis ist beunruhigend. Während die Bereitschaft, mit Betroffenen in Kontakt zu treten in Bezug auf Depression und Alkoholabhängigkeit unverändert geblieben ist, hat sich das Verhältnis zu Menschen mit Schizophrenie im Vergleich zu 1990 deutlich verschlechtert.

Die Studie unter der Leitung von Georg Schomerus von der Universitätsmedizin Greifswald im "The British Journal of Psychiatry" veröffentlicht.

"Das Besondere ist, dass wir die Einstellungsentwicklungen zu psychisch Kranken seit 1990 sehr gut nachverfolgen können, weil wir Vergleichsdaten aus den Jahren 1990, 1993 und 2001 haben", sagte Schomerus. Dazu liegen Studien des Leipziger Wissenschaftlers  Matthias C. Angermeyer vor, der auch an der aktuellen Studie beteiligt war. In circa 30-minütigen Gesprächen wurden den Befragten erneut drei exemplarische Krankheitsgeschichten vorgestellt, ohne Nennung der Diagnose. Sie sollten dann ihre Meinung sagen zu möglichen Ursachen, Behandlungsempfehlungen sowie persönlichen Einstellungen zu Menschen mit der geschilderten psychischen Erkrankung.

Stress als Krankheitsauslöser

In den letzten 20 Jahren haben biologische Ursachenvorstellungen zur Schizophrenie deutlich zugenommen, während psychosoziale Ursachenvorstellungen etwas abgenommen haben. 2011 stimmten 62 Prozent der Aussage zu, es handle sich bei dem geschilderten Problem um eine Gehirnkrankheit, 1990 waren es nur 43 Prozent. Auf der anderen Seite führten 2011 66 Prozent eine Schizophrenie auf ein belastendes Lebensereignis zurück, 1990 waren es noch 71 Prozent.

Bei der Depression verlief die Entwicklung anders, hier scheinen psychosoziale Gründe, insbesondere Stress als Auslöser in den Vordergrund zu rücken: Insbesondere "Stress am Arbeitsplatz" wurde häufiger (2011: 80 Prozent; 1990: 70 Prozent) als mögliche Ursache bezeichnet, während die Zustimmung zu biologischen Ursachen eher gesunken ist. Auf die offene Frage, wie sie das geschilderte Problem bezeichnen würden, antworteten bei der Depression in der aktuellen Umfrage über 10 Prozent mit dem Begriff "Burnout", 2001 waren es weniger als 1 Prozent gewesen, 1990 praktisch niemand.

Bei der Depression zeigt sich damit eine Trendwende: Noch bis 2001 war auch hier eine Zunahme biologischer Krankheitsvorstellungen zu verzeichnen gewesen, mittlerweile treten aber Vorstellungen von Stress und Überlastung zunehmend in den Vordergrund. Bei der Alkoholabhängigkeit gab es keine einheitlichen Veränderungen, hier dominiert klar die Vorstellung von psychosozialen Stressfaktoren: 2011 stimmten 21 Prozent zu, dass es eine Gehirnkrankheit sei, 25 Prozent meinten, das wird "vererbt". Dagegen meinten 73 Prozent, Auslöser sei ein belastendes Lebensereignis, 76 Prozent vermuteten Stress am Arbeitsplatz als Ursache.

Medikamenteneinnahme wird positiv gesehen

Für alle Krankheiten gilt, dass professionelle therapeutische Behandlung erheblich an Popularität gewonnen hat, und zwar sowohl die Pharmakotherapie als auch die Psychotherapie. Der Anteil von Personen, der psychiatrische Medikamente für die Behandlung einer Schizophrenie empfahl, stieg zwischen 1990 und 2011 von 30 Prozent auf 53 Prozent, bei der Depression von 26 Prozent auf 35 Prozent.

Für beide Krankheitsbilder war die Psychotherapie noch populärer, auch hier zeigte sich eine deutliche Zunahme bei den Behandlungsempfehlungen. Analog hat auch die Empfehlung von Psychotherapeuten und Psychiatern als Behandler deutlich zugenommen, während es bei den Hausärzten nur kleine Zuwächse und bei Selbsthilfegruppen keinerlei signifikante Veränderungen gab. Bei der Alkoholabhängigkeit wurde ebenso vor allem der Gang zum Psychiater, Psychotherapeut und Hausarzt oder die Selbsthilfegruppe empfohlen. Positiver wurde auch hier die Einnahme von Medikamenten oder eine Psychotherapie eingeschätzt.

Bedürfnis nach sozialer Distanz

Was die Stigmatisierung der Betroffenen angeht, zeigten sich unterschiedliche Entwicklungen. Für Betroffene mit einer Depression konnten tendenziell geringfügige positive Veränderungen beobachtet werden: die Menschen äußerten 2011 etwas mehr Mitleid und Hilfsbereitschaft und etwas weniger Befangenheit als 1990, gleichzeitig aber auch mehr Ärger über den Betroffenen. Das Bedürfnis nach sozialer Distanz, also die Bereitschaft, mit einem Betroffenen in alltäglichen Situationen umzugehen, blieb weitgehend unverändert.

Eine eindeutig negative Entwicklung zeigte sich dagegen für die Schizophrenie: Hier nahm die Furcht vor den Betroffenen zu, während positive Reaktionen wie Mitleid und Hilfsbereitschaft abnahmen. Vor allem aber ist das Bedürfnis nach sozialer Distanz deutlich gestiegen: Während es 1990 zum Beispiel 20 Prozent waren, die eine Zusammenarbeit mit einer an Schizophrenie erkrankten Person ablehnten, waren es 2011 schon 31 Prozent.

Der Anteil derjenigen, die es ablehnten, jemand mit einer Schizophrenie einem Freund vorzustellen, stieg von 39 Prozent auf 53 Prozent.

Die stärkste Ablehnung unter den drei Krankheitsbildern erfahren nach wie vor Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit. Die persönliche Ablehnung äußert sich darin, dass 31 Prozent einen Alkoholkranken nicht als Nachbarn wünschen, 34 Prozent nicht als Arbeitskollegen, 60 Prozent nicht im Freundeskreis und 61 Prozent nicht als Untermieter.

Differenzierte Betrachtung

"Die Öffentlichkeit weiß mehr über psychische Krankheiten und ist einer psychiatrischen Behandlung gegenüber aufgeschlossener. Das sind die positiven Entwicklungen", sagt Schomerus und ergänzt: "Aufklärung und Wissen ändern aber offenbar nichts am Problem der Stigmatisierung." Bei der Schizophrenie gibt es sogar Hinweise, dass eine einseitige Betonung biologischer Prozesse bei der Darstellung dieser Krankheit in den Medien oder durch Wissenschaftler den Betroffenen schadet.

Mit der Befragung konnte demonstriert werden, dass durch ein rein biologisches Krankheitsverständnis eine vermeintliche Andersartigkeit der Betroffenen betont wird und dadurch die Ablehnung steigt. Schomerus fordert daher ein differenzierteres, lebendigeres Bild von Menschen mit psychischen Krankheiten. "Psychisch kranke Menschen dürfen nicht auf eine Fehlfunktion im Gehirn reduziert werden."

Nach Auffassung des Studienleiters müssen in der Gesellschaft und Öffentlichkeit dringend neue Wege in der Aufklärung von psychischen Erkrankungen und im Umgang mit den Betroffenen gesucht werden. "Bis zu einem selbstverständlichen Umgang mit psychischen Krankheiten, die ja sehr häufig sind, ist es noch ein weiter Weg. Wir haben in den letzten 20 Jahren viel getan, aber offenbar zu wenig erreicht. Das ist leider keine gute Botschaft für die Betroffenen, zu denen ja jeder einmal gehören kann," sagt Schomerus. (red, derStandard.at, 11.3.2014)