Familientherapeut, Autor und STANDARD-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: Family Lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit familylab Österreich.

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Frage:

Mein Mann leidet unter schwerem Asthma. Die Krankheit hat sich im Laufe der Jahre als ein gewohnter Bestandteil unseres täglichen Lebens entwickelt. Wir haben einen achtjährigen Sohn. Ich war immer der Ansicht, dass auch für ihn diese Tatsache normal sei, aber in den letzten Monaten wird uns bewusst, dass er viel über die Krankheit seines Vaters nachdenkt und sich große Sorgen macht. In letzter Zeit werden die Symptome des Asthmas wieder stärker, und seitdem stellt unser Sohn sehr viele Fragen, zum Beispiel wie schnell ein Krankenwagen kommen würde oder ob dieser schnell genug da sein könnte. Wenn ich ihm seine Gute-Nacht-Geschichte vorlese und er seinen Vater husten hört, sagt er zu mir, dass ich ihn auch alleine lassen kann und ich besser zu Papa gehen soll, um ihm zu helfen. Es gibt noch viele andere kleine Anzeichen dafür, dass er selbst sehr betroffen ist. Das betrübt unser tägliches Leben. Vielleicht sollte er mehr über die Krankheit erfahren, aber wir haben Angst, dass es ihm zu große Sorgen in seiner Kindheit bereitet. Was sollen wir tun?

Vielleicht sollte ich auch erwähnen, dass mein Mann und ich nie über seine Krankheit sprechen, wenn unser Sohn dabei ist. Ich glaube, dass wir unsere Sorgen ganz gut verbergen können. Dennoch wissen wir nicht, ob uns das gut genug gelingt. Vor kurzem hat uns unser Sohn darauf angesprochen und uns gebeten, mit ihm darüber zu reden. Sollen wir nun versuchen, so ehrlich wie möglich zu sein?

Antwort Jesper Juul:
Ein sehr interessantes Phänomen, dessen sich Erwachsene nicht bewusst sind, ist, wie Kinder sich für das Wohlergehen und Wohlbefinden ihrer Eltern verantwortlich fühlen. Wir sind zwar sehr aufmerksam, aber berücksichtigen diese Tatsache oft zu wenig.

Ihr Sohn ist ein gutes Beispiel dafür, wie er sich in seinen jungen Jahren bereits um Sie kümmert. Aus einer natürlichen Verantwortlichkeit kann sich zusehends eine Überverantwortlichkeit entwickeln. Bemerkbar macht sich dies, indem Kinder schon sehr jung wie Erwachsene sprechen. Das geschieht in Familien, in denen ein Teil oder beide Elternteile nicht in der Lage sind, die Verantwortung für sich selbst oder die Familie als Ganzes zu übernehmen, wie z. B. bei Alkoholismus, Drogenmissbrauch oder psychischen Krankheiten.

Schmerz und Einsamkeit

Die Verantwortung, die Ihr Sohn zeigt, ist völlig natürlich und in keiner Weise eine Belastung, von der er und andere Kinder in ähnlichen Situationen gänzlich verschont werden sollten. Es ist ganz und gar unmöglich! Übernimmt ein Kind jedoch zu viel Verantwortung, wird es also überverantwortlich – so entsteht eine Last, die schwerer ist, als sie sein sollte. Diese Erfahrung manifestiert sich über die Jahre zu einem integralen Bestandteil des eigenen Selbstbildes und beeinflusst die Art der Beziehung zu anderen Menschen.

Kinder bürden sich nicht nur den Schmerz und eine Menge Verantwortung auf, sondern auch Einsamkeit, die sie in diesen Familien begleitet. Sie nehmen die Schuld der Eltern auf sich, die nicht die Verantwortung für ihr eigenes Leben tragen. Sie schreiben, Sie sollten vielleicht erwähnen, dass Ihr Mann und Sie nie über seine Krankheit sprechen, wenn Ihr Sohn dabei ist, und Sie glauben, dass Sie Ihre Sorgen grundsätzlich gut verstecken können, sind sich dabei aber nicht sicher, ob es Ihnen gut genug gelingt.

Das ist ein universelles Beispiel, wie wir Eltern zwar instinktiv, aber unangemessen reagieren. Kinder wissen alles! Sie wissen, ob ihre Eltern Probleme haben, ein Elternteil eine Affäre hat, wenn es ihrer Mama schlecht geht. Kinder wissen zwar nicht immer über den Inhalt Bescheid. Trotzdem merken sie, dass etwas im System aus der Balance geraten ist, und versuchen dies auszugleichen.

Das Leben meistern

Was ist also wirklich am besten für das Wohlbefinden der Kinder und auch für ihre persönliche und soziale Entwicklung? Die Antwort lässt sich in zwei Sätzen formulieren, von denen ich mir wünsche, dass sich diese die überwiegende Mehrheit der modernen Eltern, denen es ähnlich ergeht, auf die Kühlschranktür klebt und sich dadurch ermutigen lässt:

Es ist nicht die Mission der Eltern, ihre Kinder vor Schmerz und Widrigkeiten zu schützen. Die Aufgabe ist vielmehr, den Kindern ein Beispiel zu sein, wie man sein Leben meistert, auch wenn es schmerzvoll und schwer ist.

Deshalb ist es wichtig, dass Ihr Mann und Sie über eine abwechselnde Strategie einig werden. Vor allem auch, dass Ihr Mann mit seinem Sohn über die Krankheit, die Schmerzen, die Angst und die auf den Sohn übertragene Schuld spricht. Es wäre perfekt, wenn er in etwa mit den folgenden Worten beginnt: "Wir haben über viele Jahre hin gedacht, dass es am besten ist, dir gegenüber meine Krankheit zu verbergen, um dich damit vor deinen Sorgen schützen zu können. Jetzt haben wir aber bemerkt, dass das ein Fehler war, und deshalb möchte ich dir darüber erzählen, was es ist und wie ich mit der Krankheit lebe …"

Das heißt, dass Sie beide Ihren natürlich gegebenen Wunsch, Ihren Sohn schützen zu wollen, überwinden müssen. Denken Sie dabei daran, dass eine überbehütete Kindheit – ein Trend, der sich seit den letzten 20 Jahren in unserem Teil der Welt breitmacht – Kindern eine grundlegende Fertigkeit raubt. Nämlich sich in einer Kompetenz zu üben, die sie so dringend brauchen, wenn sie Jugendliche und Erwachsene werden. In Ihrer Familie ist der Tod allgegenwärtig. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass ihr Mann bei einem Asthmaanfall stirbt. Aber die Angst, dass es passieren kann, müssen Sie als ein ständiges Mitglied in Ihrer Familie aufnehmen. Je mehr Sie dieses zusätzliche Familienmitglied ignorieren oder isolieren, desto größer werden die Auswirkungen auf das Wohlbefinden der gesamten Familie.

Mit Tod beschäftigt

Acht Jahre alte Kinder haben bereits mit sechs Jahren eine Phase durchlaufen, in der sie sich intensiv mit dem Tod auseinandersetzen – vor allem dem der Eltern und dem eigenen. So gesehen ist also ein Achtjähriger philosophisch bestens vorbereitet. Mein Vorschlag ist, dass Sie und Ihr Mann jedes Mal alle Ihre Gedanken und Gefühle mit Ihrem Sohn teilen, wenn Sie sich sorgen, unglücklich oder ängstlich sind. Hin und wieder, wenn Ihr Mann vielleicht in der Nacht einen heftigen Hustenanfall hatte , können Sie Ihren Sohn am nächsten Moren fragen, ob er es gehört und Angst hatte. Ein anderes Mal, wenn Sie sehen, dass Ihr Sohn nachdenklich ist, fragen Sie ihn einfach, ob er gerade über die Krankheit seines Vaters nachdenkt. Seine Antwort sollte Ihrerseits nicht durch Trösten abgeschwächt werden, sondern eine zusätzliche Solidarität ihm gegenüber ausdrücken.

Das beste "Gegenmittel" gegen die Verantwortung Ihres Sohnes ist, ihn zu ermutigen, so viel Kind wie nur möglich zu sein. Also mit Gleichaltrigen zu spielen, ganz bei sich und verantwortungslos zu sein. Auf diese Weise wächst er in einer ganz besonderen Familie auf, die ihm unschätzbare Erfahrungen und Erkenntnisse auf seinem Weg ins Erwachsenenalter mitgibt. (Jesper Juul, derStandard.at, 9.3.2014)