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Das Kreuz mit den Sternen. Auf der Leipziger Buchmesse (13. bis 16. März) versucht die Schweiz Imagepflege zu betreiben.

Foto: APA / Keystone / Steffen Schmidt

Nachdem die Schweiz Anfang Februar für ein paar Tage als unheilvoller Bote durch die europäische Presse geisterte, die vormachte, welche Verunsicherung und Ressentiment rechtspopulistische Kräfte im vereinigten Europa abrufen können, wenn man sie lässt, präsentiert sich auf der Buchmesse in Leipzig die andere Schweiz, die vielsprachige, bunte und weltoffene. Ob die zwei Hälften so sauber getrennt werden können, wie es in der aufgeladenen Stimmung vor und nach der Abstimmung beide Seiten gerne für sich beanspruchen, darf bezweifelt werden. Gerade deshalb ist das Nachdenken darüber, was die eigenen Ängste auslöst und was von ihnen ausgelöst wird, so wichtig.

Alternative Interpretation

Die Schweiz ist immer wieder für eine Überraschung gut. Nachdem die abstimmende Bevölkerung in der Vergangenheit Probleme löste, die es nicht gab, und Forderungen aufstellte, deren Umsetzung die Aufkündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention nötig machen würde, hat sie sich am letzten Wochenende für die Begrenzung des eigenen, überbordenden Wohlstands ausgesprochen. Mit der Annahme der Initiative gegen die Masseneinwanderung hat die Schweizer Bevölkerung zum ersten Mal gegen ihre wirtschaftlichen Interessen gestimmt. Wir wollen weniger!

Das ist der Ausruf, der ganz Europa erschreckt. Die Politiker und Wirtschaftsführer sind entsetzt, denn sie wissen: Die Selbstbeschränkung ist die einzige wirksame Waffe gegen den Kapitalismus. Wir verzichten aufs Zweitauto, den Zweitkühlschrank, auf den größeren Fernseher, das jährlich neue und noch klügere Telefon! Selbst die größten und mächtigsten Unternehmen der Welt können dagegen nichts ausrichten. Sie kämpfen mit verschiedenen Strategien dagegen an. Sie investieren Milliarden in Werbekampagnen und planen die Obsoleszenz ihrer Produkte, denn sie wissen: Wenn sich der Konsument verweigert, gehen sie innerhalb weniger Quartale jämmerlich zugrunde.

Und jetzt das, die reichste Bevölkerung der Welt lehnt sich mit einem direktdemokratischen Volksentscheid gegen das kapitalistische Diktat des "Immer mehr" und "Immer schneller" auf, das ihr den unermesslichen Wohlstand beschert hat. Sie entscheidet sich dafür, weniger zu wollen. Niemand kann behaupten, die Abstimmenden hätten die Konsequenzen ihres Handelns nicht gekannt. Die Regierung, der Wirtschaftsdachverband, die Gewerkschaften, die Medien, alle haben in unmissverständlichen Worten davor gewarnt, was es für die Zukunft der Schweiz bedeutet, wenn die Wirtschaft aus Mangel an Fachkräften nicht weiterwachsen kann.

Dennoch hat sich eine knappe Mehrheit der abstimmenden Bevölkerung für die Beschränkung der Einwanderung und damit für die Beschränkung der Wirtschaft entschieden. Das Schweizer Stimmvolk ist aufgestanden und hat in aller Deutlichkeit in die Welt hinausgerufen: Wir brauchen kein Zweitauto, keinen neuen Kühlschrank, keinen größeren Fernseher und kein noch klügeres Telefon!

Unvermeidliche Naturgewalten

Bei aller Begeisterung über den ersten Schritt zur Überwindung des Kapitalismus soll nicht außer Acht gelassen werden, wer diesen Schritt gemacht hat. Die Abstimmungsanalysen sind noch nicht im Detail ausgewertet, und somit kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob es unter den 1.463.954 Millionen Befürwortern der Initiative einen gibt, der aus der Einsicht heraus, dass der Wohlstand in der Schweiz unanständig ist und deshalb beschnitten werden muss, für die Begrenzung der Zuwanderung gestimmt hat.

Wahrscheinlicher ist, dass die ältere Generation, die sich noch an das goldene Zeitalter der Vollbeschäftigung und des Wirtschaftswunders erinnert, die jüngere Generation von Erasmusstudenten und Praktikantinnen überstimmt hat. Auch wenn sich die Initiative in allen Gesellschaftsschichten einer gewissen Zustimmung erfreute, ist doch anzunehmen, dass der durchschnittliche Befürworter ein pensionierter Mann ist, der auf dem Land lebt. Kein Einwanderer konkurriert mit ihm um seine Rente, er findet in der Regionalbahn immer einen Sitzplatz, und im Stau steht er nur, wenn er glaubt, ausgerechnet zu Ostern in den Süden fahren zu müssen.

Steigende Mieten kümmern ihn nicht, weil er damals, als ihm der Hausbaukredit vom Sparkassendirektor nachgeworfen wurde, ein Stück Land kaufte. Saisonniers aus Südeuropa, die ihre Familien zurücklassen mussten, damit sie neun Monate im Jahr in der Schweiz arbeiten durften, errichteten ihm ein Eigenheim. Seine Frau braucht ein Zweitauto, weil der Dorfladen zugesperrt hat, als sich die Besitzerin mit siebenundachtzig Jahren, nach langem erfolglosem Bemühen um einen Nachfolger, zur Ruhe gesetzt hat.

Die einzigen Zuwanderer, mit denen er regelmäßigen Kontakt pflegt, sind sein deutscher Hausarzt, der die verwaiste Landpraxis übernahm und der katholische Priester aus Polen, der nur einmal im Monat predigt, weil er auch für die umliegenden Gemeinden zuständig ist. Er hat die Initiative angenommen, weil er sich nach klaren Verhältnissen sehnt. Die Welt ist unübersichtlich geworden.

Er spürt, dass er nicht mehr selbst über sein Schicksal entscheidet. Seine Sparkasse ist von einer Großbank aufgekauft worden, deren CEO aus dem Strudel der internationalen Finanzmärkten gurgelnde Stellungnahmen abgibt. Die Politiker erklären ihm im Fernsehen, dass die Maßnahmen, die sie treffen, ohne Alternative sind. Sein Telefon ist nicht mehr von der PTT, den Post-, Telefon- und Telegrafenbetrieben, gemietet, die ihm dafür monatlich eine Rechnung stellen. Der freie Markt verlangt von ihm, dass er viel Zeit damit verbringt, im Dickicht der Anbieter die günstigsten Angebote aufzuspüren. Nach dem dritten Wechsel hat er feststellen müssen, dass es keine Rolle spielt, bei wem er unterschreibt, er wird geringgeschätzt und fühlt sich deshalb betrogen. Er will mit seiner Stimme ein Zeichen setzen, bevor das Chaos in seinem Dorf und damit in seinem Alltag um sich greift. Er spürt die Hilflosigkeit, die von den gewählten Politikern in schön gesprochenen Parolen an die Bürger weitergegeben wird.

Die Zwänge der globalen Wirtschaft und die Gesetze des Marktes haben es auf die Liste der unvermeidlichen Naturgewalten geschafft und stehen auf einer Stufe mit Erdbeben und Hochwasser. Es ist dieses Unbehagen, aus dem heraus der durchschnittliche Befürworter abgestimmt hat. Er spürt, dass er etwas verloren hat, was ihm sehr wichtig und wertvoll war. Wenn er den Verlust aber im Fundbüro der Bezirksstadt melden wollte, hätte er das Problem, dass er der Dame weder beschreiben noch benennen könnte, was er verloren hat. Er spart sich den Weg in die Stadt, weil er spürt, dass der Verlust unwiederbringlich ist.

Europäische Dimension

Besorgniserregend ist der Abstimmungsausgang in der Schweiz deshalb, weil es den oben beschriebenen Bürger in ganz Europa in immer größerer Zahl gibt. Findige Politiker haben sich darauf spezialisiert, das diffuse Unbehagen in Bahnen zu lenken, die ihnen nützen, und mit zunehmender Verunsicherung steigern sie ihre Wähleranteile. Ihre Gegner, die jungen und zukunftsfreudigen Menschen, die in drei verschiedenen Ländern studieren, um danach in einem vierten zu arbeiten, sind auf einem Kontinent mit sinkenden Geburtenraten und steigender Lebenserwartung eine kleine Minderheit.

Dass der Mensch in fortgeschrittenem Alter die Welt, die Zustände und vor allem die jungen Menschen nicht mehr versteht, ist ein ganz normaler Vorgang. Es war schon immer so, vermutlich seit es Menschen gibt. Es ist gut vorstellbar, dass die alten Höhlenbewohner am Feuer saßen und über die neumodischen Methoden ihrer Kinder bei der Mammutjagd den Kopf schüttelten. Zu einem Problem wird das Unverständnis erst, wenn immer mehr und immer ältere Menschen über die Zukunft von immer weniger jungen Menschen entscheiden.

Genauso wenig wie in der Schweiz die erfolgreichen Initianten über die Folgen ihres Sieges mit der Europäischen Union verhandeln müssen, werden die Alten die Konsequenzen ihres Wahlverhaltens tragen müssen. Es ist Zeit, dass die jungen Menschen erkennen, dass die Selbstverständlichkeiten, mit denen sie aufgewachsen sind, keine sind. Sie haben die allermeisten Errungenschaften und Annehmlichkeiten des vereinten Europas der Wirtschaft zu verdanken. Die Politik reagierte auf die Bedürfnisse der Wirtschaft und nicht auf die Bedürfnisse des Menschen. In den letzten Jahren hat die Wirtschaft ihren guten Ruf verspielt. Niemand glaubt mehr an die Geschichte vom fürsorglichen Unternehmen, das sich um seine Mitarbeiter kümmert.

Profitmaximierung, Arbeitsplatzverlagerung und eine sich öffnende Lohnschere, die zu perversen Exzessen an der Spitze und einer stetig wachsenden Gruppe von Beschäftigten führt, die unter dem Existenzminimum leben, machen selbst aus konservativen Pensionisten antikapitalistische Aktivisten. Es liegt an den jungen Menschen, die Freiheit und Offenheit zu verteidigen, die sie als Grundlage ihres Lebens begreifen, nicht im Interesse der Wirtschaft, sondern in ihrem eigenen Interesse. (Lorenz Langenegger, Album, DER STANDARD, 8./9.3.2014)