Auf verlorenen Posten: Jacques Perrin in "La 317ème section". 

Foto: Filmmuseum

Das Freundestrio aus "Ich bin zwanzig Jahre alt".

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Wien - Die ersten Programme des Österreichischen Filmmuseums waren eine Lektion russisches Kino: Wsewolod Pudowkin, Lew Kuleschow, Aleksandr Dowschenko und andere Vertreter der historischen Avantgarde hatten in Wien damals noch keinen angestammten Ort. Von Peter Kubelka und Peter Konlechner am 26. Februar 1964 gegründet, gab die Kinemathek der Filmkunst erstmals historische Tiefe. Die Vorstellungen fanden zunächst in TU-Hörsälen statt. Erst 1965 wurde die Albertina Wohnsitz, Kubelkas "unsichtbares Kino" zog 1989 ein.

Die 50-Jahr-Feierlichkeiten haben die Institution zum einen wieder mobil gemacht. So ist bis 20. April im New Yorker Museum of Modern Art noch die Retrospektive Vienna Unveiled: A City in Cinema zu sehen. Alexander Horwath, Direktor des Hauses, hat eine Schau zum Topos Wien kuratiert. Weitere Gastspiele folgen dieses Jahr in Toulouse und Bologna.

Daheim wird das Jubiläum mit der offener angelegten Filmreihe 1964 - Wendepunkte des Kinos ausgerufen. Die erste Abweichung davon, Filme aus dem Gründungsjahr zu zeigen, findet sich bereits in der Auswahl von Arbeiten von 1961 bis 1965. Vorbei an Kalendergrenzen und konkreten Ereignissen geht es um den Fokus auf ein diffuses Gefühl der Veränderung. The Times They Are A-Changin' - oder wie es bei Bob Dylan weiter heißt: The order is rapidly fadin' - Ordnungen lösen sich auf, Formen geraten in Bewegung.

Das Kino reagiert auf die Außenwelt, nicht nur inhaltlich, sondern in seinem Selbstverständnis als wirklichkeitsgesättigte Form. Erneuerungsbewegungen erfassen nach Italien und Frankreich, wo die Nouvelle Vague schon salonfähig ist, auch Länder wie Tschechien oder entwickeln sich im brasilianischen Kino von Glauber Rocha (Gott und der Teufel im Land der Sonne / Deus e o diablo na terra do sol, 1964) fort. In der Sowjetunion geht die Tauwetterphase dagegen mit der Entmachtung Chruschtschows schon wieder ihrem Ende zu.

Ein Meilenstein des sowjetischen Kinos, der die Unentschiedenheit dieses Moments wie kein anderer Film trifft, ist Ich bin zwanzig Jahre alt / Mne dvadcat' let (1963) von Marlen Chuzijew. Er kommt erst 1965 zensuriert ins Kino: Die Zeit ist ihm bedauerlicherweise vorausgeeilt. Erzählt wird vom Leben dreier Freunde in Moskau, Vertreter einer neuen Generation, die an die Ideale ihrer Väter nur bedingt anschließen wollen: Der Bogen dieses in seinem lyrisch-dokumentarischen Tonfall atemberaubenden Films reicht vom hoffnungsvollen Aufbruch, dem neuen Lebensgefühl, bis zur schleichenden Verhärtung und letztendlich Isolation.

Aus heutiger Sicht sind an Ich bin zwanzig Jahre alt nicht zuletzt die verblüffend beweglich gefilmten, teils von gewöhnlichen Bürgern bevölkerten Straßenszenen aufschlussreich. Der Einzelne geht im Kollektiv nicht mehr auf. Wiederholt sprechen die Protagonisten voll Selbstzweifel mit sich selbst - sogar mitten in Dialogen.

Gruppen als politische Größe

Auch in Pierre Schoendoerffers Indochina-Kriegsfilm (eines der vielen nichtkanonisierten Werke der Reihe) La 317ème section (1965) erhält die Gruppe eine politische Dimension. Freundschaft wird ein Mittel, um sich - zeitweise - gegen die Ordnung zu positionieren. Zwei gegensätzliche französische Soldaten kämpfen sich in einem bereits verlorenen Krieg mit ihrer Truppe durch feindliches Terrain.

Die Allianz zwischen dem milden Jacques Perrin und dem furchtlosen Bruno Cremer fußt auf einem Existenzialismus, der ohne übergeordnete Idee auskommt. Der Blick des Films trotzt der absurden Lage, indem er sich dem Moment verschreibt. In Alain Resnais' zwei Jahre davor entstandenem Muriel ou le temps d'un retour wirkt die koloniale Vergangenheit auch in die Form hinein: Disparat ist die Beziehung der Figuren, die den Schatten des Algerienkriegs nicht abstreifen können.

Mit populärkulturellen Beispielen zeigt diese Retrospektive, dass die Kluft zwischen High und Low Mitte der 60er-Jahre noch weniger ausgeprägt war - und weniger von Marktüberlegungen durchdrungen als heute: Ein Billigfilmer wie Roger Corman drehte mit X - The Man With the X-Ray Eyes (1963) einen Science-Fiction-Film, der genauso in halluzinatorischen Passagen aus der Form laufen durfte wie John Frankenheimers Verschwörungsthriller The Manchurian Candidate (1963).

Ein Veteran aus dem Koreakrieg im Gehirnwäschedilemma; ein Wissenschafter, der durch Wände sieht und daran zerbricht: Dem Kino wurden die Grenzen von Sehen und Erkennen(können) bewusst. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 7.3.2014)