Wer narrative Games wie "The Last of Us" in vollen Zügen genießen will, sollte lieber das Internet meiden.

Foto: Sony
Foto: Telltale/"The Walking Dead"
Foto: Sony/"The Last of Us"
Foto: Telltale/"The Walking Dead"
Foto: Take-Two/"BioShock Infinite"

Man kann seinen Mitmenschen auf verschiedenste Weise das Leben vermiesen. Man kann ihnen das Eis wegnehmen, absichtlich die Ausfahrt zuparken oder ihnen demonstrativ Rauchwolken ins Gesicht blasen. Eine der tückischsten Methoden, anderen den Spaß zu verderben, ist allerdings immer noch die, ihnen die Überraschung und Spannung zu rauben, die aus dem Nichtwissen entsteht. Kurzum: Wer anderen den Spaß an Filmen, Büchern oder Spielen vergällen will, verrät Handlungswendungen, den Namen des Mörders oder das Ende. Wer "Spoiler" ausplaudert, verdirbt seinen Mitmenschen somit absichtlich den Genuss an Film, Buch oder Spiel.

Eine Gemeinheit, die verständlicherweise für Unmut sorgt und voll im Trend liegt: Wir leben im Zeitalter des Spoilers. In Zeiten des allgegenwärtigen Internets ist kein Geheimnis sicher. Es braucht große Mühe und Disziplin, sich von aufgeregten Diskussionen auf Twitter, Facebook oder sonstwo im Netz fernzuhalten, wenn man sich etwa die Ereignisse der großen TV-Serienhits unberührt bewahren will. So mancher Fan sieht sich auch deshalb genötigt, möglichst am Tag der US-Ausstrahlung seine Lieblingsserie "illegal" im Netz anzusehen, weil ihm das aufgeregte Geplapper seiner Filterblase am nächsten Tag ansonsten den Spaß daran verderben würde.

Das verwundbare Medium

Bei Spielen, so könnte man zumindest blauäugig behaupten, liegt die Sache ein wenig anders. Anders als bei den passiveren Medien steht bei Games ja eigentlich das eigene Erleben im Mittelpunkt, lässt sich das Tun, das Spielen selbst nur schwer verderben. Der Sandkistenspaß in "Minecraft", die Wanderungen durch "Skyrim" oder das lustvolle Chaos in "GTA 5" sind kaum zu spoilern - immerhin gibt es bei dieser Art von Spiel auch selten derart bedeutsame Handlungswendungen als Dreh- und Angelpunkt. Auch jene Spiele, in denen tatsächlich derartige narrative Pointen versucht werden - als Paradebeispiele seien "Portal", "Bioshock", "Shadow of the Colossus" oder "The Last of Us" genannt -, leben nicht ausschließlich von ihren erzählerischen Kniffen, sondern werden von diesen höchstens veredelt. Klar schmälert das Wissen um das Ende den Spaß - doch Spiele bestehen eben nicht nur aus Erzählen, sondern auch aus Interaktion.

Das war nicht immer so. Vor wenigen Jahrzehnten, lange vor dem Internet, war das narrative Adventure eines der populärsten Spielgenres überhaupt und da, zur Erinnerung, ist jeder Handlungsfortschritt direkt an die Lösung der gestellten Rätsel gebunden. Generationen von Spielern grübelten intensiv an den Geheimnissen dieser Titel, lauschten Gerüchten über das Kettensägenbenzin in "Maniac Mansion" oder fieberten der nächsten Ausgabe der Spielemagazine entgegen, in denen "Tipps & Tricks"-Sektionen samt Komplettlösungen einen beachtlichen Seitenanteil ausmachten. Heute ist die Lösung jedes noch so obskuren Spielgeheimnisses selten mehr als zwei, drei Mausklicks entfernt, und jedes Sich-Abmühen mit besonders unlogischen oder auch nur herausfordernden Rätseln ist zum Akt des freiwilligen Masochismus geworden.

Der Tod des Rätselns

Der Verdacht drängt sich auf, dass die Dauerverfügbarkeit von Lösungen, Walkthroughs und Spoilern aller Art ein Hauptgrund für die schwindende Popularität dieser Art Spiel ist. Die kleine Adventure-Renaissance, die gerade abseits des Mainstreams etwa im Fall von "Broken Age" oder "The Walking Dead" aufblüht, hat sich denn auch nicht die Rätsel als Hauptthema gestellt, sondern atmosphärisches Storytelling - wohl kaum ein Spieler wird an den Aufgaben, die etwa Telltales Zombie-Abenteuer stellt, entnervt scheitern und deshalb zum Walkthrough greifen. In einer Welt voller Lösungsangebote sind klassische Rätsel schlicht zum anachronistischen Nischenprogramm geworden.

Auch dies ist ein Beleg für das "Erwachsenwerden" des Mediums: Wer hat schon Lust, sich in seiner kargen Freizeit auch noch im Spiel anzustrengen?  Schließlich, so wird zumindest immer behauptet, sollen Spiele Spaß machen, und das heißt auch: leicht und ohne Reibungsverlust konsumierbar sein. Spieler heutzutage, so könnte man ätzen, sind scheinbar schon beim Anblick auch kleinerer Aufgaben sofort heillos überfordert.

Delegierter Spaß

Wollte man dieses polemische Argument vertiefen, man hätte in einem jüngeren Massenphänomen einen bitterbösen Beleg dafür gefunden: Immer häufiger tritt an die Stelle des eigenen Spielens, auch wenn dieses dank Hilfen aus dem Netz, Tutorials und allgemein sinkendem Schwierigkeitsgrad ohnehin nicht mehr sehr "anstrengend" ist, der passive Konsum des Mediums. Es ist das "Let's Play"-Phänomen: Millionen Fans sehen ihren YouTube-Stars beim Spielen zu, anstatt selbst zu spielen. Die "Let's Play"-Stars Sarazar, Gronkh oder Pietsmiet lassen Spiele so zu einem weiteren passiven Berieselungsmedium werden.

Warum aber überhaupt so den Spielspaß an andere delegieren? Hier sind Mechanismen am Werk, die über das Medium weit hinausgehen. Das Phänomen, eigene Handlungen und Empfindungen lustvoll auf andere zu verschieben, andere für sich genießen zu lassen, nennt der österreichische Philosoph Robert Pfaller "Interpassivität" - und neben dem "Laugh-Tracks" bei US-Sitcoms, Pornografie, Kochsendungen oder dem zwanghaften Kopieren von Skripten, statt diese zu lesen, steht das Phänomen "Let's Play" recht eindeutig als interpassives Paradebeispiel in dieser Reihe delegierter Vergnügungen. Es macht vielen Spaß, anderen beim Spielen zuzusehen - so viel, dass das eigene Spielen daneben oft zweitrangig wird.

Die neue Härte

Doch Halt: "Verweichlichte" Spieler, die, wie polemisch an die Wand gemalt, im Extremfall gleich andere für sich spielen lassen und für die Walkthrough und Let's Play das Spielen gleich ganz ersetzen, sind das eine - doch gleichzeitig ist eine lustvolle Rückkehr zur Härte im Gange, die als Gegenbewegung die alten Tugenden hochhält. "Dark Souls" drängt sich als Beispiel auf, doch auch abseits dieses nicht nur wegen seiner fairen Härte kultisch verehrten Millionenerfolgs gibt es eine Rückkehr zum Masochismus.

Indie-Spiele wie "Super Meatboy" oder "Super Hexagon" halten die altmodische Spielerüberforderung ebenso hoch wie die immer öfter auch in den Mainstream zurückkehrende Designphilosophien der Rogue-likes: Spiele wie "FTL", "The Binding of Isaac" oder spezielle "Iron Man"-Modi in Titeln wie "Diablo" oder "XCOM" sorgen für harten Spielspaß, der sich nicht spoilern lässt und seinen Spielern alles abverlangt. Große Titel wie "Bioshock Infinite" mit seinem "1999-Mode" oder das jüngst zu durchwachsenen Kritiken erschienene "Thief" bieten ihren Spielern immerhin die Möglichkeit, durch Schrauben an den Einstellungen die Verhätschelungen modernen Spieldesigns auszuhebeln oder ganz rückgängig zu machen. Und beweist nicht sogar die zähneknirschende Härte millionenfach gespielter Games-Phänomene wie "Flappy Bird", dass auch heute schwierige Herausforderungen angenommen werden?

Unverdorben

Um in weitem Bogen zur polemischen Eingangsfrage zurückzukehren: Die Sorge, dass wir uns mit Walkthroughs, "Let's Plays", Cheats und Spoilern unser Medium entwerten könnten, ist unbegründet. Es fordert eben mehr Disziplin, in jenen Genres, die sich spoilern lassen, gezielt wegzusehen und erst spät oder gar nicht Walkthroughs zu benutzen; mit "Let's Plays" und Video-Walkthroughs auf YouTube entsteht überdies ein passiver, um nicht zu sagen "interpassiver" Nebenschauplatz.

Im absoluten Gros der Spiele jedoch, und im kreativen Untergrund, der verlässlich als Gradmesser für die Richtung des behäbigen Mainstreams gelten darf, feiern die Herausforderung und ihre Meisterung durch den hartnäckigen Spieler ihre triumphale Wiedergeburt. So einfach lässt sich das Spiel nicht verderben. (Rainer Sigl, derStandard.at, 6.3.2014)