Lorraine Daston: "Die Idee des 'genauen Lesens' scheint für die Studenten von heute Schnee von gestern."

Foto: Skùli Sigursson

Die Digitalisierung der Buchbestände sieht Lorraine Daston als Arbeitserleichterung. Sie beobachtet aber auch, dass die jüngere Generation anscheinend anders liest.

Foto: STANDARD/Corn

STANDARD: Sie haben sich in einem Ihrer jüngeren Projekte mit der Geschichte der Geisteswissenschaften beschäftigt. Seit wann gibt es diese Bezeichnung überhaupt?

Daston: Der Begriff der Geisteswissenschaften ist ziemlich jung. Eine der ersten Erwähnungen des Begriffs stammt aus der Übersetzung eines Buchs des englischen Philosophen und Ökonomen John Stuart Mill, der auf Englisch 1843 von den „moral sciences" sprach. Auf Deutsch wurde das mit Geisteswissenschaften übersetzt. Diese binäre Trennung zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften ist dann erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entstanden.

STANDARD: Wie war damals das Verhältnis zwischen diesen „zwei Kulturen"?

Daston: Es gab immer ein Hin und Her zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften, manchmal rivalisierend, manchmal kooperierend, aber immer im Dialog miteinander. Es gab aber natürlich auch Konkurrenz. An der Preußischen Akademie der Wissenschaften zum Beispiel waren die Naturwissenschafter noch in den 1890er-Jahren verzweifelt, weil die Geisteswissenschafter das ganze Geld für ihre Großprojekte bekamen. Deshalb erfanden damals auch die Naturwissenschafter Großprojekte wie „Das Tierreich" oder „Das Pflanzenreich", die geisteswissenschaftliche Großforschungsprojekt nachahmten.

STANDARD: Die Großforschung entstand also gar nicht in den Naturwissenschaften?

Daston: Nein, das waren die Geisteswissenschafter, beginnend mit Theodor Mommsens Projekt Corpus Inscriptionum Latinarum Mitte des 19. Jahrhunderts, einer umfassenden Sammlung antiker lateinischer Inschriften. Und im Grunde gab es auch schon in der unter den Humanisten der Renaissance die Vorstellung, dass Forschung eine Gemeinschaftsarbeit sei. Schon damals war klar, dass eine Person allein nie in der Lage wäre, etwa die Editionen klassischer Autoren zu besorgen.

STANDARD: Wie kam es, dass wir so etwas wie Arbeitsgruppen und Publikationen mit mehreren Autoren vor allem mit den Naturwissenschaften assoziieren?

Daston: Das ist eine relativ junge Entwicklung. Die meisten Arbeiten von Naturwissenschaftern im 19. und auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden von einzelnen Forschern durchgeführt, und ihre Publikationen hatten entsprechend nur einen Autor. Sieht man sich tatsächlich die konkreten Praktiken  der Geistes- und Naturwissenschaften an, so wie das die Wissenschaftsgeschichte seit rund 20 Jahren tut, dann erscheinen viele der uns geläufigen Einteilungen als überkommen.

STANDARD: Können Sie dafür noch andere Beispiele nennen?

Daston: Es gibt Praktiken, die manche Geistes- und Naturwissenschaften gemeinsam haben – wie zum Beispiel das Sammeln von Objekten und Quellen. Das ist sowohl für viele Lebenswissenschaften wie auch Geisteswissenschaften üblich. Unter diesem Gesichtspunkt haben die Geschichtswissenschaften sehr viel mehr mit den Lebenswissenschaften zu tun, als etwa beide mit der Philosophie und der Physik. Es ist für mich im übrigen frappierend, dass Naturwissenschafter – auch solche ohne philosophische Ader – besser darüber reden können, wie sie wissen, was sie wissen, als die Geisteswissenschafter, die sonst über alles sehr eloquent reden können.

STANDARD: Woran liegt das?

Daston: Ich glaube, dieses Manko kommt daher, dass wir keine Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften haben. Ich beobachte immer wieder Diskussionen im gemischten Kreis von Natur- und Geisteswissenschaften, etwa am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Und da scheint es mir so zu sein, dass viele Naturwissenschafter nicht begreifen, dass das, was die Geisteswissenschaften produzieren, auch eine Art von Wissen ist, weil sie ihre eigenen Methoden darin nicht erkennen. Das war im übrigen auch der Grund für die Idee, gemeinsam mit Kollegen eine Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften zu schreiben.

STANDARD: Sollten sich die Geisteswissenschafter öfter an solche gemeinsame Projekte wagen, so wie das auch schon im 19. Jahrhundert der Fall war?

Daston: Das hängt wohl in erster Linie von der Problemstellung ab. Nehmen wir die Historiografie: Bestimmte Gegenstände oder Entwicklungen kann man lokal in mikrohistorischen Studien untersuchen. Andere Themen oder Phänomene werden jedoch nur über längere Perioden oder einem breiteren Kontext deutlich – und dafür braucht man Mitarbeiter. Ein solches Projekt, an dem wir ebenfalls hier am Institut in den letzten Jahren arbeiteten, war etwa eine Geschichte der wissenschaftlichen Beobachtungen von der Antike bis heute. Das kann nur eine Gruppe machen. Und selbst die kann ein solches Thema nur in Teilbereichen erforschen.

STANDARD: Sehen Sie abgesehen vom Umfang der Problemstellung noch andere Vorteile des gemeinsamen Arbeitens?

Daston: Im Idealfall kommt man dabei auf ganz neue Erkenntnisse: Durch solche Großprojekte wie die Geschichte der wissenschaftlichen Beobachtung können zum Beispiel neue Periodisierungen entstehen oder neue analytische Kategorien, auf die man sonst nie gekommen wäre. Aber dafür muss man allerdings auch sehr viel Material sichten und sehr viel gemeinsam diskutieren.

STANDARD: Ihr Institut betreibt nicht nur geisteswissenschaftliche Großprojekte. Es ist auch führend bei der Digitalisierung von klassischen Texten der Wissenschaft. Welche Vorteile sehen Sie darin?

Daston: Der größte Gewinn ist eindeutig, die Quellen zur Verfügung zu haben. Ich bin allen Bibliotheken für ihre Anstrengungen extrem dankbar, Texte digital zugänglich machen.  Das erleichtert und beschleunigt natürlich das Arbeiten enorm, wenn man im Internet wann und wo auch immer eine Passage aus der Summa theologica von Thomas von Aquin oder aus welchem Buch auch immer nachschlagen kann.

STANDARD: Sind das schon alle Vorteile? Seit einigen Jahren gibt es Werkzeuge wie Google Ngram, mit denen man Millionen von digitalisierten Büchern nach der Häufigkeit von Begriffen durchsuchen kann. Eröffnet so etwas nicht auch ganz neue Perspektiven für die Geisteswissenschaften?

Daston: Millionen von Büchern nach bestimmten Begriffen durchsuchen zu können, ist an sich großartig. Und um Hypothesen zu generieren, eignet sich so etwas wie Ngram wunderbar. Aber ich würde Ergebnisse einer Ngram-Suche nie als Beweis für irgendetwas verwenden, zumal solche Suchanfragen kontextualisierendes Lesen natürlich nicht ersetzen können. Wichtig ist, dass wir auch die Grenzen und die eingebauten Verzerrungen dieser neuen digitalen Werkzeuge kennen. Das gilt im übrigen auch schon für ganz normale Google-Suchanfragen.

STANDARD: Was sollten wir dabei berücksichtigen?

Daston: Dass die Ergebnisse, die uns Google mit seinem geheimen Algorithmus liefert, zum Beispiel durch unsere früheren Suchanfragen verzerrt sind. Wir erhalten eher Treffer angezeigt, die uns schon bei früheren Suchen als Ergebnis interessiert haben. Das ist für Forscher fatal, weil das zu immer weniger Überraschungen führt, die aber in der Wissenschaft ganz wichtig sind. Wir sollten immer offen für Zufälle sein, die unsere Lieblingshypothesen widerlegen – Google sorgt eher nicht dafür. Das gilt im Übrigen auch für politische Nachrichten, die zum Teil auch schon nach unsere Vorlieben vorgefiltert sind.

STANDARD: Wie wird es angesichts der Digitalisierung mit dem Buch, dem klassischen Medium der Geisteswissenschaften, oder auch den gedruckten Zeitschriften weitergehen?

Daston: Diese neuen Medien sind noch sehr jung. Und vieles ist einfach noch nicht absehbar. Offensichtlich ist, dass es einige offene Probleme gibt – wie etwa das der Archivierung: Ich kann auf meinem Computer word-Dokumente aus dem Jahr 2000 nicht mehr öffnen, geschweige denn Floppy-Discs aus der Zeit vorher. Für dieses riesige Problem der Archivierung müssen sich die großen Bibliotheken der Welt zusammentun und eine Lösung finden.

STANDARD: Ändert sich durch die neuen digitalen Medien auch etwas am Lesen?

Daston: Ich denke ja, auch diesbezüglich dürften wir uns in einer Zeit des Wandels befinden. Es gibt eine wunderbare Geschichte des Lesens, die der französische Historiker Roger Chartier mit Kollegen verfasst hat und die zeigt, dass auch die Lektürepraktiken erheblichen Veränderungen unterworfen waren. So gilt Augustinus als der erste Gelehrte, der nicht laut, sondern still gelesen hat. Ich selbst finde es schwierig, lange Texte auf einem Bildschirm zu lesen. Aber meine Studenten haben damit keine Probleme. Und mir scheint auch, dass sie anders lesen als ich.

STANDARD: Wie nämlich?

Daston: Etwas zugespitzt formuliert: Wenn ich lese, suche ich nach Argumenten. Und meine Studenten suchen eher nach Assoziationen. Mir kommt es so vor, als ob sie bei der Lektüre von Büchern bei bestimmten Wörtern Hyperlinks erwarten, um wo anders weiterzulesen. Die Idee des „genauen Lesens" – also dass man kontextualisierend liest oder dass die Einheit eines Arguments nicht ein Satz ist, sondern ein ganzes Kapitel oder das ganze Buch – scheint für die Studenten von heute vielfach Schnee von gestern.

STANDARD: Halten Sie das für ein Rückschritt?

Daston: Nein, ich meine das gar nicht wertend. Ich finde das sehr interessant, und jede neue Fähigkeit ist auch ein Gewinn. Es kommt mir so vor, dass diese jüngere Generation heute quasi die Google-Suchfunktion intuitiv verinnerlicht hat und gewissermaßen granularer liest und denkt. Texte werden ein wenig wie Ausstellungen wahrgenommen, wo man zwischen den Exponaten Bezüge herstellt.

STANDARD: In den Geisteswissenschaften gibt es immer noch dicke Monografien, in den Naturwissenschaften nur mehr Artikel in Zeitschriften, die zudem eine strenge Hierarchie nach Impact-Faktoren haben. Ist es ein Nachteil der Geisteswissenschaften, dass ihnen so etwas fehlt?

Daston: Nein. Ich denke, dass diese Konzentration auf Impact-Faktoren auch für die Naturwissenschaften eine gefährliche Sache ist. Denn was heißt es, wenn Publikationen in Nature, Science oder Cell so viel mehr zählen als in anderen Zeitschriften? Im Grunde bedeutet das, die eigene Beurteilung an die Gutachter und Herausgeber dieser Zeitschriften delegiert zu haben. Aber will man in der Wissenschaft tatsächlich solche Autoritätsstrukturen haben? Ich kenne viele Naturwissenschafter, die das ähnlich kritisch sehen wie die Geisteswissenschafter. Die Geisteswissenschafter haben nur mehr Widerstand dagegen geleistet. (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 05.03.2014)