Seit einem Jahrhundert stehen einander in internationalen Beziehungen die Politik der Macht, oder Realpolitik, und die Politik der Prinzipien und Werte gegenüber. Während die Europäer sich Letzterem verpflichtet haben und die USA je nach Bedrohungslage zwischen diesen beiden Polen schwanken, gilt in Russland seit Stalin das Primat der Realpolitik - wie man an Wladimir Putins Vorgehen gegen die Ukraine sieht.

In der Welt gibt es Platz für beides. Aber eines ist klar: Wer auf eine Politik der Macht mit dem Pochen auf Prinzipien wie dem Völkerrecht reagiert, der hat bereits verloren. Ein Realpolitiker wie Putin lässt sich nicht durch Verurteilungen oder symbolische Schritte wie den Ausschluss aus der G-8-Gruppe beeindrucken.

Realpolitisch orientierte Experten können daher über die ersten Reaktionen der USA und der Europäer auf die russische Politik nur den Kopf schütteln. Laute Empörung und leere Drohungen schaffen bloß den Eindruck der Machtlosigkeit und verhindern Lösungen, die den Interessen des Westens und der Ukrainer am ehesten entsprechen. Und eine Politik der Ächtung, das weiß Putin, wird nicht lange halten, weil der Westen Russland in anderen Konflikten braucht.

Was würden Realpolitiker dem US-Präsidenten und den EU-Spitzen raten? Zuerst einmal nicht für etwas zu kämpfen, was wenig praktischen Wert hat und nicht zu halten ist. Das ist die Krim. Russland hat viel größere strategische Interessen dort als der Westen oder auch die Ukraine (Stichwort Schwarzmeerflotte) und kann diese leicht durchsetzen.

Sogar völkerrechtlich ist die russische Position nicht völlig illegitim. Schließlich hat die Halbinsel eine russische Bevölkerungsmehrheit und wurde erst 1954 der Ukraine durch Nikita Chruschtschow "geschenkt".

Hier hat der Westen Putin etwas anzubieten - die internationale Anerkennung einer Rückkehr der Krim zu Russland. Dafür könnte man verlangen, dass dieser Prozess legal und geordnet, nach einer überwachten Volksabstimmung, geschieht.

Im Gegenzug sollte Russland endlich die Unabhängigkeit des Kosovo anerkennen, dessen Abspaltung dem gleichen Prinzip der Selbstbestimmung von Völkern und Volksgruppen folgt wie die russische Krim-Politik.

Das Hauptziel westlicher Politik müsste die Stabilisierung einer westlich orientierten Ukraine sein. Hier war Russland ja der Verlierer der letzten Wochen - auch dank des Triumphs der (annähernd) westlichen Werte auf dem Maidan. Gegen Volksaufstände kann Realpolitik wenig tun.

Putin weiß wohl, dass er die Ukraine nicht mehr für seine Eurasische Union gewinnen kann; er kann nur noch stören. Das ist eine typische Pattsituation, die realpolitisch nur durch Verhandlungen aufgelöst werden kann. Deshalb müssten die USA jetzt alles daransetzen, die Führung in Kiew zu einer Deeskalation zu überreden und mit Russland einen Verhandlungsprozess zu eröffnen, in dem die Kerninteressen beider Seiten berücksichtigt werden können.

Das wäre einerseits eine Absicherung einer Westorientierung der Ukraine und ein Versprechen der Nichteinmischung Moskaus in die ukrainische Politik. Kiew müsste andererseits die Rechte der russischsprachigen Bürger garantieren und auf einen Nato-Beitritt - ein rotes Tuch für Putin - verzichten. Auch das wäre kein hoher Preis für den Westen; denn gegen russische Machtpolitik hilft eine Nato nichts. (Eric Frey, DER STANDARD, 4.3.2014)