Es gibt kaum Lücken für Missbrauch in den Sozialsystemen der EU, befinden Rechtsexperten. Wer arm ist, bleibt das allerorts.

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Wien - Wien - Der Begriff "Sozialtourismus" wurde kürzlich von Sprachwissenschaftern zum Unwort des Jahres 2013 gekürt. Es war ein knappes Rennen - auch die von Politikern und Medien oft bemühte "Armutszuwanderung", hatte gute Chancen auf den ersten Platz.

Inhaltlich vermitteln beide Bezeichnungen das gleiche Zerrbild: Scharenweise würden arme Osteuropäer in den Westen der Europäischen Union einwandern, um die Sozialsysteme auszunutzen.

Mit dem Begriff werde "gezielt Stimmung gegen unerwünschte Zuwanderer gemacht" und deren "Notlage ausgeblendet", begründete die Jury ihre Wahl.

Dass sich in der aufgeheizten Debatte nicht nur Unwörter, sondern vor allem Unwahrheiten verbergen, belegt eine von der EU-Kommission in Auftrag gegebene Studie: Der Anteil von EU-Migranten ohne Beschäftigung innerhalb der Union liegt demnach bei 0,7 bis ein Prozent, Tendenz sinkend.

"Die Menschen wandern, weil sie Arbeit suchen", bekräftigte Richard Kühnel, Leiter der Kommissionsvertretung in Österreich, am Dienstag bei einer Podiumsdiskussion zum Thema "Herausforderungen des Sozialen Europas". Der Großteil der nichtaktiven Migranten seien Pensionisten, Studenten und Arbeitssuchende.

Neben Kühnel war auch Caritas-Direktor Michael Landau, Europarechtsexperte Alexander Egger sowie Barbara Weichselbaum und Hannes Tretter vom Ludwig-Boltzmann Institut für Menschenrechte in der Kanzlei von Gabriel Lansky am Podium geladen.

Als "diffus" bezeichnete Alexander Egger die Angst vor Sozialtourismus. "Es gibt kein subjektives Recht auf soziale Unterstützung", erörterte er. Der Anspruch auf Sozialleistungen für Unionsbürger sei an den legalen Aufenthalt gekoppelt. Wer in Österreich etwa Ausgleichszahlungen auf die magere Pension erhalten will, muss sich selbst erhalten können.

Als "grotesk und obszön" bezeichnete Michael Landau die Sozialtourismusdebatte. Selbst jetzt, da die Mär mit konkreten Zahlen widerlegt wurde, sei der Geist aus der Flasche. Er erwarte sich von der Europäischen Union, dass sie "mit der gleichen Energie gegen Armut vorgeht, wie sie Banken rettet", forderte der Caritas-Präsident.

Armutsgefährdung steigt

Die Diskussion um Sozialtourismus sei "polemisch und oberflächlich" stimmte ihm Kühnel zu. "Aber die EU ist nun mal nicht mit den Kompetenzen einer Sozialunion ausgestattet", erinnerte der EU-Vertreter. Bei einer Rekordarbeitslosigkeit und 127 Millionen Armutsgefährdeten in Europa sei das auf jeden Fall ein Thema für die bevorstehenden EU-Wahlen im Mai.

Ein Mitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe ließ aufhorchen: Die 16 Millionen Euro, die aus dem EU-Fonds "European Aid to the Most Deprived" an Österreich eigentlich für Armutsbekämpfung ausgeschüttet werden, hätten sich die Landessozialreferenten ganz einfach für die Finanzierung von Schulstartpaketen zugesprochen. (Julia Herrnböck, DER STANDARD, 27.2.2014)