Gabriela Pickett vor Porträts und Skulpturen ihrer Galerie: "Nur der Mensch zählt."

Foto: Frank Herrmann

Ali Shakh ist polyglott. Er spricht Russisch, Türkisch und Englisch - und sein Lebenslauf ist der eines unfreiwilligen Weltenwanderers. Erzählt er von den Stationen seiner Odyssee, dann in Schlagworten, lakonisch kurz, so als sei die Vergangenheit nicht mehr wichtig: Geboren im Fergana-Tal. Ehemalige Sowjetunion. Musik gemacht. Geflohen, als dort, im Osten Usbekistans, 1989 ethnische Unruhen ausbrachen. Gemüse angebaut bei Krasnodar, unweit des Schwarzen Meeres, nördlich der Olympia-Stadt Sotschi. 2005 emigriert in die USA, nach Idaho, tiefster Westen. Laut Quotensystem aufgenommen als Flüchtling. Schließlich umgezogen nach Dayton, Ohio, wo er ein verfallenes Haus kaufte, mit Freunden renovierte, ein Fuhrunternehmen gründete und nun hier alt werden möchte.

Ali Shakh - eigentlich heißt er Shakhbandarov, aber das ist zu kompliziert für amerikanische Zungen - spricht ein Englisch, als sei er Rundfunksprecher und läse die Nachrichten vor. Ein wenig gestelzt klingt es, merkwürdig für einen Mann mit schwieligen Händen. Ali lernt die Sprache, während er über das weite Land fährt und im Radio die News hört. Acht Trucks sind inzwischen für seine Spedition unterwegs.

Sternenbanner und Halbmondflagge

Bei süßem Tee sitzt Ali im Clubhaus mit beigefarbenem Kachelfußboden. Oben üben Teenager Karate, es gibt einen Kindergarten. Auf einem Wappen geht die Sonne auf, flankiert vom Sternenbanner und der türkischen Halbmondflagge. Das Gebäude sollte abgerissen werden, es stand leer und vergammelte. Dann siedelten sich die ersten Ahiska-Türken, auch Mescheten genannt, in Dayton an. Sie suchten ein Gemeindezentrum, kauften die Ruine und brachten sie auf Vordermann.

4000 Ahiska-türkische Familien erhielten Asyl in den USA, allein 400 leben hier in Dayton - in einer Stadt, deren berühmteste Söhne Orville und Wilbur Wright in der industriellen Aufbruchphase ein motorisiertes Fluggerät bauten. Hier, in einer Air-Force-Kaserne, vermittelte Richard Holbrooke 1995 ein Friedensabkommen für Bosnien - es war der bisher letzte Höhepunkt der Lokalgeschichte. Heute denkt man bei Dayton eher an die Tristesse des Rostgürtels, an verrottete Fabriken, die Strukturkrise der Old Economy.

Migrantenfreundliche Stadt

Als Gary Leitzell 2010 das Amt des Bürgermeisters übernahm, war die Talsohle erreicht. "Tiefste Rezession, ganze Wohnviertel auf der Kippe", skizziert Leitzell die Lage. Die Mittelschichtenbewohner der umliegenden Vororte dachten nicht im Traum daran, aus ihrer "scheinheilen" Welt nach Dayton zu ziehen; da konnte der Mayor noch so sehr werben.

"Zum Kuckuck, sagte ich mir, dann hole ich eben die Motivierten aus aller Welt hierher!" Das sei schon immer Amerikas Erfolgsformel gewesen, heute wie vor 150 Jahren, als sich Iren, Polen, Deutsche, Slowaken und Ungarn in Ohio ansiedelten. "Manchmal vergessen die Leute, woher sie kommen. Wir sollten öfter in den Geschichtsbüchern nachschlagen."

Das imposante Rathaus lässt erahnen, was für eine stolze Stadt Dayton früher war. Anfangs war Leitzell der Außenseiter, der eine Chance bekam, weil die Wähler den Platzhirschen nichts mehr zutrauten. Politisch unabhängig, weder Demokrat noch Republikaner. Zwei Jahre später hatte er sein Konzept durchgesetzt: Dayton beschloss offiziell, eine migrantenfreundliche Stadt zu werden. Der Slogan: "Welcome Dayton".

Aushängeschild

Die Entwurzelten aus dem Fergana-Tal waren und sind dafür das Aushängeschild. Skeptikern kontert Leitzell mit ironischer Lässigkeit: "Was ist denn das Schlimmste, was uns passieren kann? Dass alle 4000 Familien auf einmal kommen und 4000 kaputte Häuser in Ordnung bringen!" So wie in der Troy Street: schlichte Zweistöcker, orientalische Ornamente, weiße Gartenzäune - Symbole kleinstädtischen Besitzerstolzes. In der Nähe ein islamischer Friedhof; der erste in Dayton.

Gabriela Pickett, geboren in Mexiko, hat die Wände ihrer kleinen Galerie förmlich tapeziert mit Gesichtern. Auch draußen, damit jeder Passant sie sehen kann. Es sind Schwarz-Weiß-Fotos lateinamerikanischer Migranten, aufgenommen von JR, einem Künstler aus Frankreich. Ob jemand legal oder illegal im Land lebt, spielt keine Rolle. "Was allein zählt, ist der Mensch." Für das Selbstwertgefühl dieser Menschen, sagt sie, sei das Projekt enorm wichtig. Auch wenn es im Großen nicht vorangehe mit der angepeilten Einwanderungsreform: Schon kleine Korrekturen könnten einen großen Unterschied machen.

Lokal- versus Bundespolitik

Leitzells Rechnung geht ungefähr so: Wer "Illegale" mit Würde behandelt, stärkt die Toleranz. Und diese wirkt wie ein Magnet, auch für Hochgebildete - wie für das Ehepaar Rakesh und Heena Rathore aus Indien: Zunächst lebte der Biochemiker Rakesh in Schweden, doch beide zog es nach Amerika. Heena fing im Schalterraum einer Bank an, absolvierte ein Studium, wechselte in die Spitalsverwaltung und beschloss schließlich, sich auf eigene Füße zu stellen. Sie hatte eine Marktlücke entdeckt: biologisch abbaubares Geschirr, das sich binnen drei Monaten zu Kompost verwandelt. Zehn Arbeitsplätze hat sie bis dato geschaffen.

Und die politischen Mühlen Washingtons? Was ist mit der aufgeschobenen Reform? "Ach was", winkt Leitzell ab und spricht über die Feds - die Politiker, die Beamten der Föderation - wie ein Krisenmanager über Zuschauer am Spielfeldrand: "Bis es die Feds kapiert haben, haben wir es lokal längst hingebogen." (Frank Herrmann aus Dayton, DER STANDARD, 27.2.2014)