Schnee entschleunigt. Er rückt auch Proportionen und Verhältnisse zurecht: Eine Schneeschuhwanderung hat zwar mit Laufen im eigentlichen Sinn nicht viel zu tun, sie kann aber ein guter Schuhlöffel für das Erkennen der Schönheit des Ortes "Draußen" sein

Kommen wir aber nun zu etwas ganz anderem. Weil Laufen sich manchmal einfach nicht ausgeht. Weil hin und wieder ein kleiner Tempo- und Rhythmuswechsel guttut. Und weil in Davos trotz der nicht gerade üppigen Schneeverhältnisse doch zu viel Schnee lag, um anderswo zu laufen als am Laufband des Hotel-Fitnesscenters. Da lasse ich es lieber ganz - noch dazu bei dem kompakten Zeitplan, den die Schweizer Gastgeber aufgestellt hatten.

Denn auch wenn es nicht so scheint: Pressereisen sind nicht nur spaßige Erholungstrips für verwöhnte Journalisten, denen das Beste einer Region vorne und das Schönste hinten schmackhaft serviert wird. Für umsonst und einen oder zwei (natürlich absolut objektive und superkritische) Artikel hernach.

Foto: Thomas Rottenberg

Bevor Sie es mir jetzt reinsagen müssen: Klar ist der Leidensdruck enden wollend. Klar ist der Erlebnishorizont eines stressigen Von-einer-Pampering-Aktivität-zur-nächsten-geschleppt-werden-Tages ein anderer als bei einem Tag hinterm Schreibtisch oder vor dem sprichwörtlichen Billa-Regal. Ja, eh. 1.000 Rosen.

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Trotzdem: Die andere Seite der Medaille. Flüge vor sechs Uhr früh, an die nahtlos maximaldosiertes zwölfstündiges Präsentations-, PR- und Reizüberflutungstrommelfeuer anschließt. Oder die Stundenlohn-Rechnung, wenn man vier volle Tage unterwegs ist, währenddessen nix Anderes arbeiten kann - um dann für irgendein Printprodukt für 6.000 Anschläge nach Kollektivvertrag (25 Euro pro 1.000 Zeichen, Anm.) bezahlt zu werden.

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Ich weiß: Jammern auf hohem Niveau. Und ich betone: Meine Schweizer Gastgeber waren zwar - was Zeitplan und Programmdichte angeht - supertough, machten aber keine Sekunde lang die mittlerweile üblichen unsauberen "Wir kriegen das eh vorher zu lesen"-Avancen oder bauten sonst wie Druck auf. Das der Korrektheit halber und nebenbei. Bloß: Laufen ging sich in Davos nicht aus. Dafür durfte ich mit Scheeschuhen wandern gehen.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich habe Schneeschuhgehen bisher nie als Selbstzweck gesehen: Auf Skitouren habe ich zum Aufstieg ein oder zweimal (wenn ich Ski ohne Tourenbindung und Felle hatte) Schneeschuhe angeschnallt - und die Snowboarder jedes Mal bedauert, die stundenlang und immer so aufsteigen müssen.

Bei Lawinenpiepsübungen in wirklich tiefem Schnee habe ich schon mit Schneeschuhen "geschummelt". Auf Selbstversorgerhütten, wenn wir zum Einkaufenfahren oder Holzholen oder zu Besuch auf andere Hütten hopsten, waren sie mitunter praktischer als Ski siebenmal auf- und abzufellen. Aber Schneeschuhwandern? Nö. Da sei mein Vorurteil vor: Ich bin doch kein Pensi. (Bis vor ein paar Jahren hätte ich an dieser Stelle außerdem gesagt: "Ich geh ja auch nicht langlaufen.")

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Zum Glück gab es aber bei den Schweizer Touristikern, die nach Davos und Klosters eingeladen hatten, keine Ausstiegsoption: Wenn da "Schneeschuhwanderung" am Plan steht, wird schneeschuhgewandert.

Auf und durch und über einen von einem Förster in Eigeninitiative errichteten Naturlehrpfad. Und auch wenn ich anfangs grinste - superunsympathisch und reichlich arrogant, je sais -, war es dann ein superschöner Spaziergang. Und zwar ab der zweiten Minute. Vielleicht sogar schon früher.

Foto: Thomas Rottenberg

Schneeschuhgehen ist nicht Rocketscience. Wer gehen kann, kann es. So hatte ich es jedenfalls immer erlebt. Andererseits: Die Kollegen, die da mit waren, standen fast alle zum ersten Mal auf den Platten, die das Einsinken verhindern helfen - und waren teils eben alles andere als schnee-, winter- oder auch nur wanderfit.

Dass Züge, Schnallen und Schnüre eher nach außen denn zueinander zeigen sollen, ist allem Anschein nach etwas, was man nicht als Allgemeinwissen voraussetzen sollte. Was Harscheisen und Steighilfen sind und wie solche Dinger funktionieren, sowieso nicht.

Foto: Thomas Rottenberg

Zum Glück weiß André Kindschi all das. Und noch viel mehr. André ist jener Ranger, der den "Gwunderwald" kreiert hat. Genau genommen heißt der Lehrpfad "Gwunderwald Heidboden Davos - der Ort für Kopf, Hand und Herz", und André hat darin seine Ranger-Diplomarbeit in die Tat umgesetzt. Oder so ähnlich. 

Es ist nämlich nicht nur in Österreich so, dass manche Kinder tatsächlich glauben, dass Kühe lila sind, Spaghetti auf Feldern wachsen und Spinat aus der Fabrik kommt. Und es sind bei weitem nicht nur Kinder, die einen Nadel- nicht mehr von einem Laubbaum unterscheiden können, Landschaft nicht unbeschallt kennen oder glauben, dass unterschiedliche Honiggeschmäcker von zugesetzten Additiven abhängen.

Foto: Thomas Rottenberg

Nicht nur Förstern wie André tut so etwas weh. Aber statt zu jammern, hat er etwas getan: einen Lehrpfad konzipiert, der statt "Lehr"- "Erlebnispfad" heißt. Dann hat er das Konzept realisiert. 

Nach Eichhörnchen-Art: Von Sponsor zu Sponsor, von Gönner zu Gönner, von Wirt zu Wirt und von Anrainer zu Anrainer lief er - bis er jede Aussichtsbank ("Setzt euch einfach fünf Minuten hin und tut gar nichts. Schaut einfach"), jeden Honig-Riechposten und jede Infotafel an den Hackschnitzel-Scheunen ("Mit diesem Berg hier kann das Luxushotel, in dem ihr wohnt, drei Monate lang heizen und Warmwasser erzeugen. Oder man versorgt ein kleines Dorf fast den ganzen Winter") zusammenhatte.

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Normalerweise - im Sommer erst recht - geht man hier einfach spazieren. "Der Pfad ist ja selbsterklärend." Im Sommer lädt André Schulklassen ein, hier Projekte zu machen, Nistkästenbauen etwa.

Ob ein Nistkasten in Totenkopfform und -look Meisen verschreckt oder nicht, fanden Schüler da ebenso selbst heraus wie die Geheimnisse von optimaler Ausrichtung und Astwerk-Umgebung: Auch für den Waldprofi war und ist es spannend zu sehen, wie andere Menschen seine Welt wahrnehmen und erleben.

Foto: Thomas Rottenberg

Im Winter ist der Pfad dann eben Schneeschuhwanderland. Und wird gut begangen - schließlich gehen fast 60 Prozent der Davoser Wintergäste nicht skifahren - und immer nur Shoppen und Kaffeetrinken füllt den Tag nicht.

Schneeschuhgehen bietet sich an: Die Ausrüstung (auch wenn das für das lokale Publikum kein Argument ist) ist absolut leistbar, die Anstrengung endenwollend dosierbar - und wenn bei den ersten steileren Stellen jemand erklärt, wie ausklappbare Steighilfen funktionieren oder vorzeigt, dass beim Bergabstapfen die Krallen meistens sogar auf eisigem Boden genügend sicheren Halt bieten, kann wenig schief gehen.

Foto: Thomas Rottenberg

Denn das Naturerlebnis ist für Stadtpflanzen in jedem Fall ein "Wow"-Ding. Bei jedem Wetter. Egal ob im Wald oder über der Baumgrenze - eben weil sich so viele Menschen den Wald im Schnee nicht zutrauen. Sei es wegen der - mutmaßlich - fehlenden Kondition, sei es, weil viele Städter nicht glauben, dass man im Winter schon bei moderater Bewegung in der Regel alles andere als friert. Sei es, weil es viele tatsächlich überrascht, wie viele kleine Geräusche in dem, was "Stille" heißt, zu hören sind. Sei es, weil die langsame Bewegung im Schnee dem Kopf Zeit gibt zu schauen - und zu sehen: Landschaft, Pflanzen, Spuren. Und die 1.001 Unterschiede, die Wind, Wetter, Exposition oder Sonneneinstrahlung in diese seltsame weiße Masse zaubern, die man bis dato lediglich für "Schnee halt" hielt.

Foto: Thomas Rottenberg

Schneeschuhwandern, zeigten mir André und meine Mitreisenden, ist eine tolle Einstiegsdroge. Ein gutes Mittel, Menschen "nach draußen" zu bringen. Ihnen den Reiz jenes Weniger, das in Wirklichkeit viel mehr ist, zu offenbaren: Als wir an einer wunderschönen alten, im Winter aber leerstehenden Hütte vorbeikamen, hatten meine Mitreisenden längst vergessen, dass sie am Anfang unsicher gewesen waren.

Foto: Thomas Rottenberg

Nicht nur über das Wie, sondern auch das Wieso dieses Herumlatschens. "Könnte man hier nicht auch ein paar Tage verbringen?", fragte eine Kollegin. André bedauerte: "Ja, schon - aber man kommt im Winter nicht einmal mit dem Geländewagen hierher."

Foto: Thomas Rottenberg

Was dann kam, überraschte ihn: "Das macht doch nix. Das ist doch viel schöner, wenn man selbst herwandern muss und das, was man braucht, selbst herträgt: Dann ist all das plötzlich wieder etwas wert." (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 26.2.2014)

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Gwunderwald

Hinweis im Sinn der redaktionellen Leitlinen: Die Reise erfolgte auf Einladung von Schweiz-Tourismus.

Foto: Thomas Rottenberg