Es ist Samstag, 1. Juni, schon ein früher Sommerabend, und zumindest im Zentrum von Istanbul ist nichts mehr, wie es war. Oben am Taksim-Platz, dem größten Platz der Republik, hat sich der Staat zurückgezogen. Zehntausende feiern ihren Sieg über den autoritären Regierungschef, weltweit übertragen. Unten in Kabataş, der Anlegestelle am Bosporusufer, wartet Z. D., eine junge Frau mit einem sechs Monate alten Baby, auf ihren Ehemann. Z. war den Tag über mit Freundinnen auf den Prinzeninseln, während sich in der Stadt das Gezi-Volk sammelte.

Was dann geschah, darüber wird seit nun acht Monaten gestritten. Tayyip Erdogan hat jedenfalls daraus eine seine Standardanklagen gegen die Gezi-Bewegung gemacht: "In Kabataş ist eines unserer Mädchen Opfer eines abscheulichen Angriffs geworden", sagt er am 11. Juni 2013 in seiner wöchentlichen Rede vor den Parlamentsabgeordneten seiner Partei in Ankara. "Sie ist zur Polizei gegangen, eine Anzeige ist erstattet worden", berichtet Erdogan, leider habe der Vorsitzende der oppositionellen CHP gesagt, dass es sich um eine Lüge handle.

Nur Stunden vorher hatte Erdogan den Taksim-Platz räumen lassen; die Protestbewegung verschanzt sich im Gezi-Park. "Sie haben meine Kopftuch tragende Schwester angegriffen", rief Erdogan bei einer Massenkundgebung in Kazlıçeşme am Stadtrand von Istanbul am 16. Juni, um seine Anhänger anzustacheln; es war der Tag, nach dem auch der Park mit Gewalt geräumt worden war und die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten in den Straßen um den Taksim-Platz noch andauerten.

Z. D., deren voller Name mittlerweile bekannt ist und der von einigen türkischen Medien auch verbreitet wird, hat der Polizei folgende Darstellung zu Protokoll gegeben: Am Abend des 1. Juni 2013 sei sie an der Anlegestelle in Kabataş von 80 oder mehr halbnackten Aktivisten der Gezi-Protestbewegung angegriffen und mit Schlägen traktiert worden; sie sei an ihren Geschlechtsteilen berührt worden, den Kinderwagen mit ihrem Baby habe man ihr entrissen, eine der Personen habe den Wagen so wild geschaukelt, dass das Baby auf- und absprang; man habe sie beschimpft wegen ihres Kopftuchs, und als sie auf dem Boden lag, sei auf sie uriniert worden – so berichteten später türkische Medien. Dann sei die Gruppe weitergezogen in Richtung Inönü-Stadion, das an der gleichen Hauptstraße liegt wie die Schiffsanlegestelle.

Z. D. geht vier Tage später zur Polizei, erstattet Anzeige und lässt sich medizinisch untersuchen. Der Arzt findet laut Bericht fünf blaue Flecken, jeweils einen bis eineinhalb Zentimeter groß; das Baby hat drei winzige, zwei Millimeter große Flecken. Z. D.s Schwiegervater Osman Develioglu soll die Frau zur Anzeige aufgefordert haben. Develioglu ist Bürgermeister des Istanbuler Stadtteils Bahçelievler und Mitglied der Regierungspartei AKP.

Am 13. Juni, nach Erdogans Auftritt vor zehntausenden Parteianhängern in Kazlıçeşme, erscheint in der regierungsnahen Tageszeitung "Star" ein Bericht über den mutmaßlichen Angriff. Die Journalistin Elif Çakır hatte Z. D. getroffen; was sich an der Anlegestelle zugetragen haben soll, kommt auf die Titelseite der Zeitung: "Die Frauen beschimpften (sie), die Männer schlugen", lautet die Schlagzeile. "Wo sind die Beweise für den Angriff, der auf die junge Mutter Z. D. verübt wurde?", fragt Çakır drei Tage später in ihrer Kolumne und wehrt Zweifel am Hergang der Geschichte ab. Auch die populäre Talkshow-Moderatorin Balçiçek Ilter berichtet über Z. D. im Nachrichtensender Habertürk und der gleichnamigen Tageszeitung. Beide Journalistinnen und zwei weitere Kollegen haben seit vergangener Woche eine Anzeige wegen "Anstachelung der Öffentlichkeit zur Feindseligkeit" und Verleumdung der Gezi-Demonstranten laufen. Denn: Das Video einer Sicherheitskamera in Kabataş ist plötzlich aufgetaucht. Es zeigt Z. D., die auf ihren Mann wartet, aber keinen Angriff. Und auch keine Reaktionen der vielen Wartenden an der Haltestelle.

Kanal D zeigte das Video am 13. Februar in den Abendnachrichten sowie zwei Bilder anderer Kameras. Sie zeigen Z. D., die zunächst auf dem Platz zwischen Anlegestelle und Straßenbahnhaltestelle in Kabataş wartet; um 19.42 Uhr geht sie durch die Schranken und überquert mit dem Kinderwagen die Hauptstraße. Eine kleine Menschengruppe kommt ihr auf dem Bürgersteig entgegen – es sind die Gezi-Aktivisten –, zieht weiter, und Z. D. steigt in das Auto ihres Ehemanns ein. Letzteres ist im Video zumindest für das ungeübte Auge nicht ersichtlich, wie auch der Rest unscharf und grau ist:

Von den Videos hieß es zuerst, die Aufnahmen seien so abstoßend, dass sie der Öffentlichkeit nicht gezeigt werden könnten. Dann gab Istanbuls Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu bei einem Treffen mit Autoren des türkischen Internet-Alternativlexikons Ekşi Sözlük am 11. Juli auf eine entsprechende Frage bekannt, viele Kameras seien beschädigt, es gebe keine Videoaufnahmen – oder, genauer: keine Aufnahmen, die einen Angriff zeigten.

Das ist nun auch der Stand der Dinge. Z. D. selbst trat mittlerweile verdeckt vor einer Kamera auf und bekräftigte ihre Version des Hergangs. "Ich habe den Schmerz erlitten, ich habe niemandem etwas zu beweisen", sagte sie in einem Interview mit der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu.

Das Video, so darf man annehmen, ist acht Monate später aufgetaucht, weil Teile der Polizei und der Justiz nun gegen Regierungschef Erdogan kämpfen. Es ist Teil der Abrechnung, die sich mit der Veröffentlichung kompromittierender Materialien wenigstens bis zu den Wahlen im März und August hinziehen wird. Den Premier macht die angebliche "Kabataş-Lüge" rasend. Die Leugner des Vorfalls würden sich das medizinische Gutachten wohl in den Hintern stecken, um es zu verbergen, rief er – in gröberen Worten – dieser Tage bei einem Treffen mit Parteifunktionären aus.

Aber auch die Häme seiner Gegner in den Medien und den Parteien über den Zusammenbruch des Propagandastoffs vom Angriff auf "meine Schwester" schlägt mitunter weit über die Grenzen. "Urinier-Fantasien", titelte die linksliberale Zeitung "Radikal" mit einem verdeckten Porträt der kopftuchtragenden Z. D. - zumindest für kurze Zeit in der Online-Ausgabe der Zeitung, bis Chefredakteur Eyüp Can über Twitter Protestmeldungen einholten und er die Seite entfernen ließ. Während die Medien des Regierungslagers bei der Version der jungen Frau bleiben, räumte die Habertürk-Moderatorin Balçiçek Ilter ein, sie könne auch keinen Angriff auf dem Video erkennen. Z. D. müsse sich nun erklären. (Markus Bernath, derStandard.at, 26.2.2014)