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Muqtada al-Sadr prägte die irakische Politik wie kein anderer, obwohl er selbst niemals ein politisches Amt inne hatte.

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Anhänger von Sadr beim Freitagsgebet in Bagdad.

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Den Irak, den Muqtada al-Sadr in seiner Abschiedsrede so düster beschrieb, hat er wie kaum ein anderer mitgestaltet: Mit ihm will sich einer der auffälligsten politischen Führer zurückziehen, die der Irak in den elf Jahren, die seit der US-Invasion im März 2003 vergangen sind, gehabt hat. Der mittlerweile 40-jährige untersetzte schiitische Geistliche, in dessen schwarzen Bart und Haaransatz sich nun grau mischt, hat nie ein politisches Amt innegehabt. Aber sein Einfluss ist schnell illustriert, wenn man daran erinnert, dass er 2010 der Königsmacher war, der Ministerpräsident Nuri al-Maliki eine zweite Amtszeit ermöglichte.

Nur gut zwei Monate vor den geplanten Parlamentswahlen Ende April gab Sadr bekannt, dass er sich völlig von der Politik zurückziehen wolle, und distanzierte sich von seiner Bewegung, dem Ahrar-Block – auch einfach "Sadristen" genannt –, der im Parlament 40 von 325 Sitzen hält. Laut irakischen Medien traten daraufhin sechs seiner Parlamentarier zurück. Was aus dem verwaisten Rest wird, ist unklar. Obwohl Sadr in seiner Rede Maliki scharf angriff – der Irak werde von einem "Rudel von nach Macht und Geld hungriger Wölfe" geführt, sagte er –, ist es gar nicht unwahrscheinlich, dass ausgerechnet das Maliki-Lager vom Rückzug Sadrs profitiert, es könnte Stimmen und Abgeordnete erben. Allerdings ist es nicht das erste Mal, dass Muktada al-Sadr seinen Rückzug verkündet. Drei Jahre der vergangenen elf residierte er außerhalb des Irak, in der iranischen heiligen Stadt Ghom, um dort zu studieren. Diesmal sagte er, er werde in Najaf bleiben, um dem Irak und dem Islam zu dienen, was immer er damit meint. Viele glauben, das letzte Wort über seine politische Zukunft sei noch nicht gesprochen.

Muqtada al-Sadr, der Ritter der Entrechteten

Das Phänomen Muqtada al-Sadr lässt sich nicht begreifen, ohne dass man bereit ist, in die Ära Saddam Husseins einzutauchen. Muqtada, im Jahr der US-Invasion 29 Jahre alt, war der Überlebende einer berühmten klerikalen schiitischen Familie, deren berühmtere Exponenten unter Saddam systematisch verfolgt und umgebracht wurden. Die Sadrs führen ihre Abstammung auf den siebten schiitischen Imam, Moussa al-Kadhim (799 wahrscheinlich von den Abbasiden umgebracht) zurück, sie sind als Sayyids, Abkömmlinge des Propheten, am schwarzen Turban zu erkennen. Muqtada al-Sadrs Vater Muhammad Muhammad Sadiq al-Sadr war Großayatollah und wurde im Februar 1999 gemeinsam mit zwei anderen Söhnen, Brüdern Muqtadas, von Saddams Schergen ermordet, wobei sich das vom Regime gestreute Gerücht, es habe sich um einen schiitischen Insider-Job, in den auch der Iran verwickelt war, in antischiitischen irakischen Kreisen bis heute hält. Es wurden sogar einige Personen vom Regime für diesen Mord hingerichtet – dass diese wirklich die Täter waren, glaubte niemand, ganz im Gegenteil, die "Ermittlungen" waren wohl ein Weg, gegen andere Schiiten vorzugehen.

Der junge Sadr lebte danach mehr oder weniger im Untergrund. Allein der Name seiner Familie war vielen Schiiten ein Heilsversprechen. In der zerbröselnden Staatsautorität der letzten Saddam-Jahre gehörten die Schia und ihre Institutionen zu den wenigen funktionierenden Strukturen (auf dem Land waren das die Stämme) – die bereit standen, als der Zusammenbruch kam. Die amerikanischen Truppen hatten im April 2004 noch nicht Bagdad erreicht, als der Stadtteil Saddam-City bereits in Sadr-City umgetauft und die letzten Reste der Baath-Behörden hinausgeworfen wurden.

Und plötzlich war er da, Muqtada al-Sadr, der noch am Leben war, und Hunderttausende junger Schiiten, darunter die Ärmsten der Armen, eine ganze verlorene Generation unter Saddam Hussein, nahmen ihn begeistert auf. Muqtada, seine Bewegung und danach seine Mahdi-Armee wurden zum Auffangbecken der Entrechteten, der Dekulturalisierten, viele darunter, die auf die große Konfrontation gewartet hatten – mit den Sunniten, mit den Amerikanern, "die Saddam Hussein an der Macht gehalten haben", was eine weitverbreitete Meinung im Irak war, nachdem die USA Saddam Hussein 1991 nach dem von ihm verlorenen Golfkrieg nicht nur nicht gestürzt, sondern ihm auch noch gestattet hatten, die Aufstände im Norden und im Süden niederzuschlagen.

Aber man versteht das sadristische Phänomen nicht, wenn man nicht auch die sozialen Konflikte mitdenkt: Die tiefe Kluft zwischen den bürgerlichen Schiiten, der Landbesitzerklasse, den Handwerkern und Gewerbetreibenden und denen, die gar nichts haben, die Bewohner der schiitischen Slums wie Saddam-City. Ihr Mann war der unbeholfene Muqtada al-Sadr, der über Emotionen mit ihnen kommunizierte, während sich die Gebildeten über ihn lustig machten und Gerüchte über seine "Behinderung" ausstreuten.       

Sadr II

Sadr-City – bei seiner Gründung durch General Qassim hieß es Thawra-City, Revolutionsstadt – ist nicht nach Muqtada, sondern nach seinem bereits erwähnten Vater benannt: Mohammed Mohammed Sadiq al-Sadr (manchmal der Einfachheit halber Sadr II genannt) hatte sich bereits, wie später sein Sohn, an die armen Schiiten aus den unteren Schichten gewandt. Das Saddam-Regime ließ ihn lange gewähren, er war eine willkommene Konkurrenz zu den anderen mächtigen Ayatollahs in Najaf. Aber in den späteren 1990er Jahren lehnte er sich immer offener gegen das Regime auf. Legendär ist, dass er, als er von Saddams wachsender Ungeduld mit ihm erfuhr, seine Freitagspredigt in Najaf in ein Leichentuch gehüllt hielt. Kurze Zeit später wurde er ermordet.

Sadr I

Aber dieser Sadr war nicht einmal der berühmteste: Das war Muhammad Baqir al-Sadr, Sadr I: Er war ein Cousin von Muqtadas Vater und der Vater von Muqtadas Frau, also Muqtadas Schwiegervater. Über seine Hinrichtung, gemeinsam mit seiner charismatischen Schwester Bint al-Huda, im Jahr 1980 kursieren grausige Details. Dieser Sadr war ein islamischer Denker von großem Gewicht und in den 1950er Jahren einer der Mitbegründer der Dawa-Partei, der ältesten schiitischen Partei im Irak. Seine für die islamische Revolution im Iran unter Ruhollah Khomeini geäußerte Unterstützung wurde ihm zum Verhängnis, wobei festzuhalten ist, dass sich die von Sadr entworfenen Staatstheorien prinzipiell von dem Khomeinischen System unterscheiden.

Nach dem Sturz Saddams

Die Positionierung Muqtada al-Sadrs nach dem Sturz Saddam Husseins im April war dadurch bedingt, dass die irakischen Schiiten, vor allem der – wie er damals noch hieß – Höchste Rat der Islamischen Revolution im Irak (SCIRI), mit den USA kooperierten, aktiv, wie eben SCIRI, oder passiv, wie die Dawa-Partei. Sie unterstützten die Invasion und arbeiteten in den von den Amerikanern geschaffenen politischen Strukturen mit, wie im Interim Governing Council (IGC), mit dem zum ersten Mal im Irak eine ethnisch/konfessionell besetzte Institution im Irak entstand. Sadr hingegen trat von Anfang an gegen die "amerikanische Besatzung" auf – völkerrechtlich war sie das ja auch, bis der Uno-Sicherheitsrat sein Mandat erteilte, das er für den Krieg verweigert hatte. Sadr attackierte nicht nur die Amerikaner, sondern auch die schiitischen Führer, die da mitmachten. Das Ziel seiner – damals noch verbalen – Angriffe waren bald auch die Ayatollahs in Najaf, denen er in seiner Zeitung al-Hawza  ihren unzeitgemäßen Quietismus und mangelnden irakischen Patriotismus vorwarf: Ayatollah Ali Sistani, der stärkste unter den Großayatollahs, stammt ja, wie schon der Name sagt, aus dem Iran – als es 2005 zu den ersten Wahlen im Irak kam, stellte sich heraus, dass er nicht einmal einen irakischen Pass besaß.

Sadrs Wüten gegen die "Kooperation" ging so weit, dass im April 2003, ein Sadr zuordenbarer Mob in Najaf den aus dem Ausland heimgekehrten Abdulmajid al-Khoei in der Imam-Ali-Moschee angriff und tötete, wie Sadr der Spross einer berühmten klerikalen Familie und Sohn eines Großayatollahs. Die wildesten Gerüchte ranken sich um diese Tat: Gesichert ist, dass Khoei mit dem von Saddam Hussein eingesetzten Verwalter der Moschee unterwegs war, die Gewalt der Sadr-Anhänger sich offenbar zuerst gegen diesen richtete, Khoei jedoch auch attackiert und schwer verletzt wurde und daran starb – wie es Erzählungen wollen, an der Schwelle von Muqtadas Haus, der jede Hilfeleistung verweigerte. Sowohl die US-Verwaltung im Irak als auch die irakische Justiz erließen später einen Haftbefehl gegen Sadr, weswegen Bagdad für ihn tabu wurde und er sich in Najaf einbunkerte.

Khoei und Hakim

Es heißt, dass Sadr mit Khoei einen starken Konkurrenten aus dem Weg schaffen wollte, ein anderer, Ayatollah Mohammed Baqir al-Hakim wurde im August 2003 bei einem großen Attentat in Najaf getötet, das jedoch zweifelsfrei sunnitischen Extremisten zugerechnet werden kann. Man muss klar stellen, dass Muqtada al-Sadr niemals, bis heute nicht, das Gewicht als religiöser Gelehrter hatte, das ihm erlaubt hätte, einen wichtigen Platz in der Hierarchie der schiitischen Gelehrten einzunehmen und Khoei oder Hakim zu ersetzen. Es ging um politische Macht. Zu Muqtada al-Sadrs Bedeutung trug bei, dass 2003 in der iranischen Gelehrtenstadt Ghom der irakisch-stämmige Ayatollah Haeri dem jungen Sadr sozusagen eine Vollmacht erteilte, im Irak in seinem Namen zu sprechen und zu agieren. Dabei ging es aber im Wesentlichen stets um politische Angelegenheiten, nicht um geistliche. Als die Mahdi-Armee immer radikaler wurde und Sadr versuchte, die Imam-Ali-Moschee zuungunsten Ayatollah Sistanis unter seine Kontrolle zu bringen, entzog Haeri ihm diese Unterstützung wieder.

So führte Muqtada al-Sadr also einerseits gegen die Amerikaner Krieg und zettelte einen Machtkampf in Najaf an – den er verlor –, andererseits stieg seine Gruppierung in den politischen Prozess ein und nahm an den ab 2005 stattfindenden Wahlen teil. Als im 2006 das Land in den Bürgerkrieg abglitt, gehörte die JEM, wie die Amerikaner sie nannten (Jaysh al-Mahdi = Mahdi-Armee), zu den Kräften, die offensiv gegen sunnitische Zivilisten vorgingen. Klar ist aber  auch, dass Sadr damals nur mehr bedingt Kontrolle über seine Mahdi-Armee ausübte: Selbst wenn er gewollt hätte, wäre er unfähig gewesen, das Morden seiner Leute zu stoppen. Sein damaliger Rückzug in den Iran, zum theologischen Studium, ist wohl auch als Reaktion darauf zu verstehen. Seine eigene Passivität, die dann doch auch den ihm loyalen Teil der Mahdi-Armee erfasste, trug neben anderen noch wichtigeren Faktoren – etwa die Abwendung der sunnitischen Stämme von Al-Kaida – dazu bei, dass 2007 der "surge" der US-Armee griff und der Bürgerkrieg im Irak beendet werden konnte.

Der Hass auf Maliki

Gleichzeitig machte Premier Nuri al-Maliki, seit Frühsommer 2006 im Amt, noch den Resten der Mahdi-Armee und ihren radikalen Ablegern – die Hilfe von den Hardlinern im Iran bekamen – im Südirak den Garaus und dämmte auch die radikalen Schiiten in Sadr-City erfolgreich ein: Der Schiit Maliki bekämpfte die Schiiten, und Sadr hat ihm das nie verziehen. Trotzdem, als der knappe Wahlverlierer Maliki 2010 Sadrs Stimmen brauchte, um zum zweiten Mal Premier zu werden, bekam er die auch – wie es heißt, hatte Teheran sich eingemischt und dafür gesorgt. Vielleicht ist es auch das, was Maliki zum jetzigen Rückzug veranlasst, weil er das nicht noch einmal tun will.

Was den Iran betrifft, ist Sadr gewiss ein Gespaltener: Trotz der Unterstützung, die er gegen die US-Besatzung von dort erhielt und obwohl Ghom sein Zufluchts- und Lernort war, hat er sich im Irak immer als irakischer Nationalist stilisiert – der als solcher durchaus die Vorwürfe und Ressentiments versteht und unterstützt, die die irakischen Sunniten gegen die Regierung Maliki haben. Sein Rückzug könnte deshalb auch damit zu tun haben, dass er befürchtet, dass die Sadristen, in einem Klima der zunehmenden Konfessionalisierung als Spill over des syrischen Bürgerkriegs, die Rechnung für die sunnitenfreundliche Haltung ihres Chefs präsentiert bekommen. Maliki versucht, alles was in der sunnitischen Provinz Anbar vor sich geht, als "Al-Kaida gegen den Irak" zu subsumieren und dürfte damit bei vielen religiösen Schiiten Erfolg haben. Dass die Bewohner der von Al-Kaida infizierten Gebiete sowohl dieser als auch der irakischen Regierung feindlich gegenüber stehen – und dass sie gute Gründe für ihre Wut auf Maliki haben –, ist für die meisten viel zu komplex.   

Najaf bleibt unerreichbar

Am Schluss eine persönliche Reminiszenz: Als ich 2006 Sondergesandte des österreichischen EU-Ratsvorsitzenden in Bagdad war, erhielt ich über Vermittler die Nachricht, Muqtada al-Sadr wolle mich sprechen: in Najaf, nach Bagdad konnte er ja nicht mehr kommen, denn er hatte zu befürchten, dass ihn die Amerikaner verhaften würden. Die Briten, die zweitgrößten ausländischen Truppensteller im Irak,  waren sehr angetan von der Idee, dass ich zu Sadr nach Najaf fahren und ihm ihre Botschaften überbringen würde: Die Sicherheitssituation des britisch kontrollierten schiitischen Südens hatte sich deutlich verschlechtert, und man suchte den Kontakt – den Sadr jedoch verweigerte, denn mit Besatzern, ob Amerikanern oder Briten oder anderen, sprach er nicht. Ich selbst war dazu bereit, und auch das österreichische Außenministerium war prinzipiell damit einverstanden – es blieb nur die schwierige Frage, wie ich da hinkommen solle, und ob man das Risiko eingehen könne, dass ich in Najaf allein auf die Sicherheit angewiesen wäre, die Sadr mir bieten würde: Niemand hätte mich ja zu ihm bringen können außer seinen eigenen Leuten. Das größte Problem jedoch war, dass Najaf in das amerikanische Militärgebiet fiel, das heißt, die Briten hatten dort keine militärische Infrastruktur. Ich war also anhängig davon, von der US-Armee per Hubschrauber hingebracht zu werden – was von der amerikanischen Botschaft zuerst verweigert wurde: Es hätte womöglich so ausgesehen, als wären die USA – die Sadr ja verhaften wollten – politisch hinter meinem Besuch gestanden, und das wollten sie nicht. Als sie schließlich – wahrscheinlich auch angesichts des beginnenden Bürgerkriegs – doch dazu bereit waren, ergaben sich Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit amerikanischer und meiner britischen Security, und überhaupt war die Sicherheitslage bereits so katastrophal geworden, dass ich am Ende auch zufrieden war, nicht nach Najaf zu fahren.

Muqtada al-Sadr sandte mir dann seine zwei wichtigsten Vertreter zu einem Gespräch: Mustafa al-Yaqubi und Salah al-Obaydi. Das Treffen fand in der russischen Botschaft in Bagdad – natürlich außerhalb der von den Kriegskoalitionären dominierten Grünen Zone – statt. Es war ein deutlicher Versuch Sadrs, seine Positionen als entschieden besatzungsfeindlich, aber nicht radikal darzustellen. Vor allem betonten seine Abgesandten immer wieder, dass er keinesfalls einen religiösen Staat à la Iran für den Irak schaffen wolle. Das war aber andererseits schon zu einer Zeit, in der die Mahdi-Armee Jagd auf Sunniten machte, etwa solche, die in eine "falsche" Moschee – eine, in der ein antischiitischer Imam predigte – beten gingen. Es gab also zwei Sadrs – einen, der zur österreichischen EU-Präsidentschaft in einer pragmatischen Sprache redete, und einen, dessen Horden im irakischen Bürgerkrieg mordeten. Das Gespräch in der russischen Botschaft blieb ohne diplomatisches Follow-up, die Realität war längst eine andere geworden, die Zeit des Dialogs war vorbei, und der Irak versank im Bürgerkrieg. Muqtada al-Sadr und Najaf blieben für mich unerreichbar. (Gudrun Harrer, derStandard.at, 23.2.2014)