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19.000.000.000 US-Dollar bezahlte Facebook für WhatsApp.

Foto: Reuters/Ruvic

Es ist Mittwochnachmittag. Daniel Raffel sitzt an seinem Schreibtisch in einem modernen Bürogebäude in San Francisco. Der Gründer der mobilen App Snapguide bespricht sich gerade mit seinen Mitarbeitern, sie sind per Video zugeschaltet. Da piepst plötzlich sein Smartphone und kündigt ihm eine wichtige Nachricht an. Raffel nimmt das Gerät zur Hand, schaut auf die Meldung und erstarrt: Facebook hat gerade 19 Milliarden Dollar für das Kurznachrichten-Startup Whatsapp gezahlt.

Raffel unterbricht sofort die Besprechung und liest seinen Kollegen die Meldung vor. Die Nachricht ist so schockierend, dass ihm zunächst keiner glaubt. Und dabei arbeiten sie allesamt in einer Branche, in der Milliardenübernahmen im Monatsabstand über die Bühne gehen. „Nein!", schreit einer seiner Mitarbeiter über die Videoleitung.

„Das ist so, als wärst du ein Olympiakandidat und die Zeit, die du in deinem Sport erzielst, ist gar nicht schlecht. Und dann kommt dein Trainer aus dem Nichts und erzählt dir: Da gibt es diesen Kerl in Russland, der hat deine Zeit gerade noch mal um dreißig Sekunden unterboten. Und du denkst nur: Was?", berichtet Raffel.

Seit Mittwochnachmittag steht das Silicon Valley Kopf. Das amerikanische Tal der Technologie, das oft genug wie eine Kleinstadtschule anmutet, weil sich seine Bewohner so gern und ausgiebig in Klatsch und Tratsch und bissigen Kommentaren überbieten, ist in seinen Grundfesten erschüttert. Dafür hat die größte Übernahme eines Start-up in der Geschichte gesorgt.

Der Deal setzt einen neuen Maßstab. Nicht wenige fühlen sich an frühere Wendepunkte erinnert – etwa daran, wie die unrentable Firma Netscape am Tag ihres Börsengangs im Jahr 1995 in die Höhe schoss und damit eine Lawine an Investitionen in Web-Neulinge auslöste. Oder daran, dass Facebook mit seinem Börsendebüt 2012 die Hürde für eine neue Welle an Internetfirmen anhob.

Apps sind erwachsen geworden

In der Whatsapp-Zentrale im kalifornischen Mountain View begossen einige Mitarbeiter ihr Glück mit Champagner, während die Firmengründer Jan Koum und Brian Acton mit einem Schlag in die Reihen frisch gekürter Tech-Milliardäre vorrückten.

In der gesamten Bucht von San Francisco gab es keinen anderen Gesprächsstoff. Das sensationelle Geschäft wurde pausenlos diskutiert und beleuchtet, sei es in Künstlercafés oder in den Glaspalästen der hiesigen Unternehmen. Gründer und Investoren und Mitarbeiter bei Technologiefirmen legten den Deal auseinander – nicht nüchtern und kühl, sondern höchst emotional. Fassungslosigkeit und Neid wechselten sich, je nach Temperament, mit Begeisterung ab. Und auch Angst war zu spüren, während viele darüber nachgrübelten, was diese Abmachung für die Zukunft zu bedeuten hat.

Das Geschäftsmodell App sei damit erwachsen geworden, lautete die Interpretation vieler Unternehmer und Investoren, die die Nachricht analysierten. Die Übernahme beweise sowohl den Wert der Apps als auch ihre internationale Tragweite. In rund fünf Jahren haben die Gründer von Whatsapp einen Dienst aufgebaut, der fast eine halbe Milliarde Nutzer anzieht. Und zwar auf der ganzen Welt, Südamerika, Afrika, Europa und Asien inbegriffen.

„Es ist schon verblüffend, wie das einfach die Luft aus den meisten Büros hier abgesaugt hat. Weil jeder an ihrer Stelle sein möchte und mehr oder minder einfach extrem neidisch auf sie ist", stellt Raffel konsterniert fest.

„Da kriegst du Depressionen, wenn dein Geschäft nicht für 20 Milliarden Dollar weggeht"

Aaron Levie wollte gerade zum Essen gehen, als ihn drei Worte zum Stolpern brachten. Levie leitet die Online-Speicherfirma Box, die geradewegs auf einen milliardenschweren Börsengang zusteuert. Einer seiner Kollegen schickte ihm eine kryptische SMS mit dem Inhalt: „Whatsapp, 19 Milliarden Dollar, Facebook."

„Ich dachte: Ich weiß nicht, was diese drei Dinge miteinander zu tun haben. Aber es kann unmöglich heißen, dass Facebook Whatsapp für 19 Milliarden Dollar gekauft hat", schildert er seine Reaktion. Mit einem derartigen Mega-Deal habe er überhaupt nicht gerechnet. Jetzt aber gehe er davon aus, dass Zukäufe künftig größere Dimensionen annehmen werden. Denn die etablierten Branchengranden wie Facebook und Google führten ihre Feldzüge, indem sie Aufschläge für Startups zahlten, die ihrem Geschäft möglicherweise gefährlich werden könnten.

„Da kriegst du Depressionen, wenn dein Geschäft nicht für 20 Milliarden Dollar weggeht", klagt Levie, dessen Unternehmen kürzlich mit etwa zwei Milliarden Dollar bewertet wurde. „Ich muss da noch viel mehr Arbeit reinstecken."

Allein im Januar blätterte Google 3,2 Milliarden Dollar für die vier Jahre alte Hardware-Firma Nest Labs hin. Und kurz darauf machte der Internetgigant noch einmal mehr als 500 Millionen Dollar für DeepMind locker. Dem kleinen Entwickler, der sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigt, sei auch Facebook auf den Fersen gewesen, sagt eine mit der Angelegenheit vertraute Person.

Facebook hatte im vergangenen Jahr vergeblich versucht, sich Snapchat einzuverleiben. Für den Spezialisten flüchtiger Kurznachrichten hatte das soziale Netzwerk etwa drei Milliarden Dollar berappen wollen. Nun gibt Facebook etwa zehn Prozent seiner Marktkapitalisierung für Whatsapp aus.

Neue Verkaufswelle erwartet

Während Start-up-Übernahmen in Milliardenhöhe plötzlich so regelmäßig über das Silicon Valley hereinbrechen wie die Wellen des Pazifiks vor der Haustür, macht sich unter den Talbewohnern Besorgnis breit. Sie haben Angst, dass solche Mega-Deals – und ganz besonders der Whatsapp-Coup – die Erwartungen und die Herangehensweise der Investoren und Unternehmer verzerren könnten.

Er gehe davon aus, dass nach dem Riesengeschäft jetzt mehr Unternehmer ihre Neugründungen an den Mann bringen wollen, meint Sam Altman. Er ist Partner des Gründerzentrums Y Combinator, das in und um das Tal berühmt dafür ist, Jungunternehmern aus dem Technologiebereich beim Ausbrüten ihrer Geschäftsmodelle unter die Arme zu greifen. Schon allein als 2010 der Hollywood-Film „The Social Network" über die Anfänge von Facebook in die Kinos gekommen sei, hätten dreißig Prozent mehr Bewerber bei Y Combinator vorgesprochen, um in das Programm der Firma aufgenommen zu werden.

Diese Art von Eifer sei sowohl Segen wie auch Fluch für die Branche. Sie profitiere zwar einerseits von dem sich ausweitenden Pool an Talenten. Allerdings könne sie auch ins Stocken geraten, wenn jetzt hochehrgeizige Unternehmer herbeiströmten, die nichts weiter im Sinne hätten, als auf eine Goldader zu stoßen.

Er persönlich geht nicht davon aus, dass das Whatsapp-Geschäft die Art und Weise beeinflusst, wie er Start-ups bewertet, sagt Altman. Das Geschäft sei ein Sonderfall, und sein Preis sei einerseits vom Erfolg der Anwendung und andererseits von den besonderen Bedürfnissen von Facebook nach oben getrieben worden. Der Abschluss sei „außergewöhnlich und selten", hatte bereits Jim Goetz konstatiert. Er war als Partner von Sequoia Capital für die Investitionen des Wagniskapitalgebers bei Whatsapp verantwortlich.

Eifersucht und Frustration

Andere Wagniskapitalgeber entgegnen allerdings, es sei schwer, die sich verändernde Dynamik zu ignorieren. Facebook möge sich vielleicht nicht noch einmal in eine Übernahme dieser Größenordnung stürzen. Aber allein schon die Tatsache, dass das soziale Netzwerk überhaupt dazu bereit war, sei schon aufschlussreich genug. Dieser Denkansatz berge ein Risiko in sich, wenn Investoren und Unternehmer der Wahrscheinlichkeit einer solch üppigen Akquisition ein zu hohes Gewicht beimäßen.

Eine solche Herangehensweise könne nicht nur dazu führen, dass die Bewertungen von Start-ups vorzeitig künstlich aufgebläht würden – die ohnehin schon spekulativ nach oben köchelten. Sie könne die Firmengründer auch von ihrer Motivation abbringen, ein tragfähiges Unternehmen aufzubauen und sie stattdessen dazu verleiten, mit ihrem Start-up schnell Kasse zu machen. Investoren wiederum könnten sich dazu genötigt sehen, zu viel Geld in Übernahmekandidaten zu stecken.

„Man kommt fast nicht umhin zu denken, dass dies jetzt ein neuer Vektor, ein neuer Pfad ist, um über Unternehmen nachzudenken", stellt Ryan Sarver, ein Partner von Redpoint Ventures, fest. „Aber wenn du in Unternehmen nur noch Übernahmeziele siehst, dann läufst du Gefahr, hinter deinen Möglichkeiten zurückzubleiben."

Für viele im Silicon Valley sind 19 Milliarden Dollar allerdings schon mehr als genug. Seit Mittwochnachmittag hat sich unter den Unternehmern dort Ernüchterung breit gemacht. Eifersüchtig seien sie und frustriert, geben einige zu. Es scheine fast so, als sei die Messlatte für den geschäftlichen Erfolg gerade neu nach oben gelegt worden.

„Wenn das als Erfolg gilt, dann ist es schwer, nicht auf das zu schauen, was du selbst machst und dich dann so weit davon entfernt zu fühlen", gesteht Snapguide-Chef Daniel Raffel. (Evelyn M. Rusli, Wsj.de/derStandard.at, 22.02.2014)