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Einer mit guten Chancen auf den Posten des Kommissionspräsidenten: Parteikollegen gratulieren zur Wahl zum Spitzenkandidaten der europäischen Sozialdemokraten. Gelaufen ist das Rennen aber noch lange nicht.

Foto: REUTERS/Thomas Peter

Wer an europäischer Politik interessiert ist und speziell wissen möchte, wofür die Spitzenkandidaten der europäischen Parteifamilien für die Wahl zum Europäischen Parlament Ende Mai stehen beziehungsweise was der (voraussichtlich) nächste Präsident der EU-Kommission zu bieten hat, der sollte sich die Abende am 15. Mai und am 21. Mai freihalten. An diesen beiden Tagen soll – gemäß bisherigen Plänen – eine in der EU-Geschichte einmalige Fernsehpremiere stattfinden.

Zu bester Sendezeit werden die Infosender in den EU-Staaten (in Österreich: ORF 3) eine TV-Livekonfrontation zunächst einmal der fünf Spitzenkandidaten der im Europaparlament vertretenen Fraktionen abhalten. Konkret: Jene von der stärksten Gruppe, der Europäischen Volkspartei EVP (275 Mandate von derzeit insgesamt 767), der Sozialdemokraten (S&D, 194), den Liberalen (ALDE 85 Sitze), den Grünen (58) und der Linksfraktion (GUE-NGL, 35).

Spitzenkandiatenreigen

Derzeit gibt es eigentlich sieben Fraktionen. Zwei davon sind stark EU-skeptisch und werden jeweils von einem britischen EU-Abgeordneten (einer von den konservativen Tories, der andere ist Nigel Farage von der Unabhängigkeitspartei) angeführt. Sie können beziehungsweise wollen an der TV-Runde nicht teilnehmen.

Außer bei der Volkspartei stehen die Spitzenkandidaten fest: Für Europas Sozialdemokraten wird Parlamentspräsident Martin Schulz ins Rennen gehen. Für die Liberalen der belgische Ex-Premierminister und Fraktionschef Guy Verhofstadt. Die Grünen treten mit einer Doppelspitze an, dem Franzosen José Bové und der deutschen Grünen Franziska "Ska" Keller (ins Fernsehen wird wohl sie gehen). Und die Linke tritt mit dem griechischen Syriza-Anführer Alexis Tsipras an.

EVP-Kandidat ausständig

Die Christdemokraten von der EVP wollen am 7. März in Dublin über ihren Spitzenmann entscheiden: Ihre Kandidatur angemeldet haben der frühere luxemburgische Ministerpräsident und Ex-Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker, EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier aus Frankreich, der früher schon Agrar-, Innen- und Europaminister in Paris war, und der lettische Expremier Valdis Dombrovskis. Die größten Chancen werden derzeit Juncker eingeräumt, aber Barnier rechnet sich offenbar auch gute Chancen aus.

Diese starke Personalisierung bei einer EU-Wahl durch gemeinsame Kandidaten ist etwas Neues, hat es so noch nicht gegeben (und ist in den Wahlordnungen eigentlich auch nicht vorgesehen). Sie verschafft den Parteifamilien aus den 28 Mitgliedstaaten aber ein zusätzliches Profil, gibt ihren Programmen ein Gesicht, weshalb man sich in einer freiwilligen Vereinbarung darauf verständigt hat.

Zweite TV-Runde

Eine zusätzliche Würze bekommt das Ganze, weil der Gewinner der Wahl quasi automatisch im Plenum des EU-Parlaments zum neuen Präsidenten der EU-Kommission gewählt werden soll. An sich haben die Staats- und Regierungschefs gemäß EU-Vertrag das Nominierungsrecht. Aber in Brüssel geht inzwischen niemand mehr davon aus, dass sie sich über ein Wählervotum hinwegsetzen können.

Die EU-Wahl wird also nicht nur über die (ideologischen) Mehrheiten in Straßburg entscheiden, sondern auch über die Spitze der EU-Kommission. In einer zweiten TV-Runde ganz kurz vor der Wahl soll es daher zu einer Direktkonfrontation der Spitzen der größten Fraktionen kommen, EVP und S&D: Man wird sich also auf ein Duell Schulz gegen Juncker oder Schulz gegen Barnier einstellen können. Dombrovskis hat nur Außenseiterchancen.

Machtwechsel könnte kommen

Nach derzeitigen Mehrheitsverhältnissen scheint das Rennen für Juncker als nächsten Kommissionschef gelaufen. Aber laut einer jüngsten Umfrage der britischen Gruppe pollwatch.2014 unter Leitung eines Professors an der renommierten London School of Economics könnte sich ein Machtwechsel anbahnen.

Wären jetzt EU-Wahlen, würden die Sozialdemokraten Europas die Christdemokraten von Platz 1 verdrängen und mit 221 Abgeordneten in Straßburg einziehen (ein plus von 27 Mandaten). Die EVP hingegen würde von 275 auf 202 Mandate förmlich abstürzen. Ebenfalls zu den Verlierern zählten die Liberalen (64 statt bisher 85 Mandate), die die größten Einbußen in Deutschland hätten. Die Grünen würden von derzeit 58 auf 44 Mandate absteigen, nach beträchtlichen Verlusten der französischen Grünen vor allem.

Populisten als Gewinner

Gewinner wären vor allem populistische Parteien, sowohl im linken wie im rechten und rechtsextremen Spektrum, während die beiden derzeitigen EU-skeptischen Fraktionen in etwa gleich blieben (42 statt 56 Mandate die Konservativen, 30 statt 31 die Nationalisten).

Für die bisherigen 32 fraktionslosen Abgeordneten erwartet Pollwatch eine Verdreifachung, die vor allem in Zugewinnen der Rechtsextremen zugrunde liegt, und dabei insbesondere des französischen Front National unter Marine Le Pen. Mit dem FR kandidiert etwa auch die FPÖ, die Lega Nord aus Italien oder die niederländische Anti-Islam-Partei von Gert Wilders. Wie stark die Fraktion der Rechtsextremen wäre, ist schwer abschätzbar, weil die Gruppen sehr inhomogen sind, miteinander zum Teil nichts zu tun haben wollen. Aber auf zirka 40 Mandate könnten sie kommen. Mit starken Zugewinnen könnte aber auch die Linksfraktion rechnen (56 statt 35 Mandate), die dann die Grünen überholen würde.

Rechenspiele

Bei solchen Mehrheitsverhältnissen wäre Schulz die Wahl zum nächsten Kommissionspräsidenten wohl sicher. Denn selbst wenn die Christdemokraten oder die Regierungschefs ihm das streitig machen wollten, kämen sie an einer parlamentarischen Mehrheit für ihn kaum vorbei. Mit Hilfe der Liberalen, der Grünen und der Linken könnte Schulz gewählt werden. Die Christdemokraten hingegen brächten selbst mit den Liberalen und den britischen Konservativen keine Mehrheit für Juncker oder Barnier zusammen und wären auf Stimmen der Rechtsextremen angewiesen, was sie bisher kategorisch ausschlossen.

Eines scheint drei Monate vor der EU-Wahl jedenfalls gewiss: Es wird ein knappes und spannendes Rennen mit einer offenen Kandidatenkonfrontation, wie es sie noch nie gegeben hat. (Thomas Mayer, derStandard.at, 21.2.2014)