Wien ist laut der jüngsten Erhebung des Beratungsunternehmens Mercer die lebenswerteste Großstadt der Welt. Schon wieder. Zum fünften Mal in Folge steht Österreichs Hauptstadt an der Wertungsspitze, und jedes Jahr wiederholen sich in den Postings die Erklärungsversuche, wie sich diese Ungeheuerlichkeit denn diesmal zugetragen haben könnte.

Realistischerweise könne Wien nicht an erster Stelle sein, kritisieren einige, denn in der U6 rieche es nach Kebab, auf jedem Gehsteig müsse man im Slalom Hundehaufen ausweichen, und die vielen rücksichtslosen Autofahrer, Radler, Fußgänger und Parkbankbenutzer seien ohnehin unerträglich.

Eine noch größere Anzahl an Kommentatoren zweifelt aber an der Erhebungsmethode der Studie selbst. Sie sei nicht aussagekräftig, weil lediglich Expats, also von internationalen Konzernen in die Welt entsandte Fach- und Führungskräfte, nach ihrem empfundenen Glück am neuen Wohnort befragt werden. Die Lebenshaltungskosten finanziere den Herren Managern aber der Arbeitgeber aus der Spesenkasse, diese müssten sich also anders als der Durchschnittswiener nicht finanziell durch den Alltag wursteln und hätten leicht reden.

Gleiche Annahmen für alle

Schon dieses Argument ist obskur. Denn was den Expats vergütet wird, ist immer eine Sache des individuellen Vertrags mit dem Unternehmen. Und selbst wenn es zutreffen würde: Dieselben Voraussetzungen müssen fairerweise auch für die Befragungsteilnehmer angenommen werden, die in den hinter Wien liegenden Städten arbeiten. Und dort ist das tägliche Leben kaufkraftbereinigt selten günstiger als in Wien. Das wird jeder bestätigen, der in London einkaufen war, in Paris für eine Unterkunft bezahlt oder in Berlin öffentliche Verkehrsmittel benutzt hat.

Darüber hinaus macht nicht nur der Inhalt des Geldtaschls eine Stadt lebenswert, sondern viele Faktoren mehr. Und von denen profitieren Expats wie Einheimische gleichermaßen: eine geringe Kriminalitätsrate, ein niederschwelliger Zugang zum Gesundheits- und Sozialsystem, ein gut ausgebautes Kommunikations- und ein engmaschiges Netz öffentlicher Verkehrsmittel, funktionierende Müllentsorgung, Kultur- und Gastronomievielfalt, reine Luft, klares Wasser. All das hat Wien (und das Rathaus wird uns in den kommenden Imagekampagnen wieder penetrant daran erinnern).

Was man über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte als typisch wienerisches Raunzen, Sudern oder Lamentieren missverstanden hat, ist in Wirklichkeit vielleicht nur eine chronische Unzufriedenheit, die die Wienerin und den Wiener immerzu antreibt, es noch besser machen zu wollen. Wenn das der Preis für eine ansonsten höchst lebenswerte Stadt ist, sollten wir uns damit arrangieren können. (Michael Matzenberger, derStandard.at, 20.2.2014)