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Brennende Barrikaden trennen am Unabhängigkeitsplatz Demonstranten und Polizei.

Foto: Reuters/Yakimovich

Kiew/Moskau - Trotz eines vereinbarten Gewaltverzichts in Kiew haben sich Polizei und Demonstranten neue Auseinandersetzungen geliefert. Protestierer warfen auch Feuerwerkskörper und Brandsätze auf die Sicherheitskräfte, die Tränengas abfeuerten. Schwarze Rauchwolken von brennenden Reifen stiegen in den Himmel. Tausende Menschen harrten auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) aus.

Die ukrainische Regierung beschuldigte die Demonstranten, gezielt auf Sicherheitskräfte geschossen zu haben. Mindestens 23 Uniformierte seien verletzt worden, teilte das Innenministerium am Donnerstag mit. "Scharfschützen" der radikalen Regierungsgegner würden im Stadtzentrum Mitglieder der Spezialeinheit Berkut sowie Truppen des Innenministeriums ins Visier nehmen. Die Opposition warf wiederum der Führung den Einsatz von Schusswaffen vor.

Parlament sagt Sitzungen ab

Nach neu entflammten Straßenschlachten in Kiew hat das ukrainische Parlament seine für Donnerstag und Freitag geplanten Sitzungen kurzfristig abgesagt. Der frühere Parlamentspräsident Wladimir Litwin sagte der Agentur Interfax zufolge, das Gebäude werde evakuiert. Gründe nannte der fraktionslose Abgeordnete zunächst nicht.

Auch in vielen Städten im Westen der Ex-Sowjetrepublik blieb die Lage angespannt. In der Großstadt Lwiw (Lemberg) patrouillierten sogenannte Selbstverteidigungskräfte in den Straßen. Die antirussisch geprägte Gegend ist eine Hochburg radikaler Regierungsgegner.

Überraschender Gewaltverzicht

Die Opposition und Präsident Viktor Janukowitsch hatten am Vorabend überraschend einen Gewaltverzicht verkündet. Das teilten beide Seiten am Mittwochabend in Kiew mit. Ein Sturm von Sicherheitskräften auf den Maidan stehe derzeit nicht zur Debatte, erklärten die Oppositionsführer Arseni Jazenjuk und Vitali Klitschko nach einem Treffen mit Janukowitsch. Am Donnerstag sollen die Krisengespräche fortgesetzt werden.

US-Präsident Barack Obama begrüßte die Waffenruhe. "Wenn sie umgesetzt wird, wäre das ein begrüßenswerter Schritt nach vorne", sagte er am Mittwoch am Rande des Nordamerika-Gipfels im mexikanischen Toluca. Sowohl die USA als auch Kanada würden die Lage genau beobachten, um sicherzustellen, "dass den Worten auch Taten folgen", erklärte Obama nach einem Gespräch mit dem kanadischen Premierminister Stephen Harper.

USA verhängen Einreiseverbot

Zuvor hatte er die Gewalt in der Ukraine scharf verurteilt und im Fall einer weiteren Eskalation mit Schritten der internationalen Gemeinschaft gedroht. "Es wird Konsequenzen haben, wenn Leute eine Linie überschreiten", sagte Obama. Die USA erwarteten von der ukrainischen Regierung, im Umgang mit friedlichen Protestanten auf Gewalt zu verzichten. Aber auch die Demonstranten müssten friedlich bleiben. Ein Sprecher des US-Außenministeriums erklärte, 20 hochrangige Regierungsmitglieder, die die USA verantwortlich für die Gewalttaten der Nacht auf Mittwoch machen, dürften nicht mehr in die Vereinigten Staaten einreisen.

Die EU-Außenminister wollen bei einem Sondertreffen am Donnerstagnachmittag "finanzielle Sanktionen und Visa-Beschränkungen" gegen die politische Führung beschließen. Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) sagte am Mittwoch, "dass wir für zielgerichtete Sanktionen sind gegen jene, die für die Gewalteskalation verantwortlich sind". Europa dürfe nicht wegsehen, "wenn in unmittelbarer Nachbarschaft Menschen erschossen werden".

Die Oppositionsführer hatten sich am Abend zunächst kurz mit Janukowitsch getroffen. Danach tagten sie auch mit Präsidialamtschef Andrej Kljujew und Justizministerin Jelena Lukasch. "Heute ist die Hauptsache, das Blutvergießen zu stoppen, das von der Regierung provoziert und entfacht wurde", sagte Klitschko anschließend. Die inhaftierte Oppositionsführerin Julia Timoschenko rief hingegen zum Aufstand auf. "Wir müssen die Diktatur beseitigen, jetzt und für immer", hieß es in einer Mitteilung der Ex-Regierungschefin.

Zweifel an baldiger Lösung

Anna Schor-Tschudnowskaja von der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien glaubt nicht an eine baldige Lösung im Streit zwischen Opposition und Regierung. Eine Lösung sei "nicht wirklich in Sicht", es bedürfe gravierender politischer Schritte, sagte die ukrainische Soziologin in der "ZiB24" des ORF-Fernsehens. Und auch die Maidan-Demonstranten würden nicht aufgeben, dafür sei es "zu früh". Hinter den "radikalen Zwischenfällen" vermutete die Expertin eine "leitende Hand aus Moskau, die versucht, die Situation zu destabilisieren, weil es in ihrem Interesse ist".

Der Vorsitzende der Sozialdemokraten im EU-Parlament, Hannes Swoboda, bekräftigte zuvor in der "ORF-ZiB2", dass er Janukowitsch nicht mehr für tragbar halte. "Kein Staatsoberhaupt, das so viel Blut an den Händen hat, kann im Amt bleiben", hatte Swoboda bereits zuvor am zur jüngsten Eskalation der Gewalt gemeint.

Deutschland will vermitteln

Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier wird bei seinem Kurzbesuch in der Ukraine an diesem Donnerstag auch mit Janukowitsch zusammentreffen. Zudem stehen Gespräche mit der Opposition  auf dem Programm.

Steinmeier sagte vor seinem Abflug: "Wir wollen in Kiew mit Präsident Janukowitsch und den Vertretern der Opposition sprechen, um darauf zu drängen, jetzt beiderseits eine Atempause einzulegen und die Gewalt herunterzufahren. Und wir wollen helfen, wieder einen Weg in Verhandlungen über eine politische Konfliktlösung zu finden. Eine Lösung kann nur zwischen den Konfliktparteien in Kiew erfolgen."

Tote und Verletzte

Bei schweren Zusammenstößen waren in der Nacht auf Mittwoch auf dem zentralen Unabhängigkeitsplatz Maidan in Kiew mindestens 28 Menschen getötet und vermutlich mehr als 1.000 verletzt worden. Am Mittwochabend tauschte Präsident Janukowitsch kurzfristig den Generalstabschef aus. In die blutigen Ereignisse der Nacht hatte das Militär nicht eingegriffen. Janukowitsch erklärte den Donnerstag zum landesweiten Tag der Trauer.

Nach Wochen angespannter Ruhe waren die Massenproteste gegen die prorussische Regierung in Kiew am Dienstag in schwere Straßenschlachten umgeschlagen. Der Geheimdienst SBU bezeichnete das Vorgehen der Opposition als "konkrete Terrorakte" und kündigte eine "Anti-Terror-Aktion" gegen extremistische Gruppierungen im ganzen Land an. Das Militär teilte mit, es sei befugt, daran teilzunehmen.

Vorwurf des versuchten Staatsstreichs

Der geschäftsführende Regierungschef Sergej Arbusow warf der Opposition einen versuchten Staatsstreich vor. Wegen dieses Vorwurfs leitete der Geheimdienst Ermittlungen gegen "einzelne Politiker" ein. Beide Seiten beschuldigten sich, die Eskalation der Gewalt verschuldet zu haben. Klitschko erhob schwere Vorwürfe gegen Janukowitsch. "Jeder Kiewer ist eine Geisel des blutigen Diktators", sagte Klitschko einer Mitteilung zufolge.

In mindestens vier westukrainischen Städten erstürmten radikale Regierungsgegner weitere Verwaltungsgebäude. Die nationalistisch geprägte Gegend nahe der Grenze zu Polen gilt als Hochburg der radikalen Opposition. Hunderte aufgebrachte Menschen blockierten aus Protest gegen das Vorgehen der ukrainischen Führung einen wichtigen Grenzübergang zu Polen. Im prorussischen Osten des Landes verübten Unbekannte in mehreren Städten Brandanschläge auf Büros von Oppositionsparteien. (APA, 20.2.2014)