Wien - Fiktion und Wirklichkeit liegen nur ein paar Meter auseinander: Auf der einen Straßenseite, zeigt ein gewisser Anwar Congo freundlich, habe sich einst das Kino befunden, wo seine geliebten Elvis-Filme liefen. Und gegenüber steht noch das Haus, auf dessen Flachdach er seinerzeit unter Zuhilfenahme einer dicken Drahtschlinge eigenhändig Menschen umbrachte, und zwar als Teil jener Kommandos, die in Indonesien im Verein mit Teilen der Armee von 1965 bis 1966 Kommunisten und chinesische Mitbürger folterten und töteten - die Zahl der Opfer wird auf bis zu eine Million Menschen geschätzt.
Fast fünfzig Jahre später ist Anwar Congo, ein agiler älterer Herr, der noch immer gerne tanzt, einer der Protagonisten von Joshua Oppenheimers The Act of Killing. Im Herbst 2012 beim Filmfestival in Toronto vorgestellt, avancierte der Film im Vorjahr zu einem der meistbeachteten Dokumentarfilme, aktuell gehört er zu den Oscarkandidaten.
Auch zum Österreichstart wird Act of Killing als "beispiellos in der Geschichte des Kinos" beworben. In den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren sind freilich vermehrt Dokumentarfilme entstanden, in denen Täter zu Wort kommen. Die Zugänge sind allerdings unterschiedlich. Eine Ausnahmeposition nimmt etwa Romuald Karmakars Hamburger Lektionen ein, der in erster Linie einen Diskurs in den Mittelpunkt stellt, wenn er den Schauspieler Manfred Zapatka in einem neutralen Raum eine Serie transkribierter Predigten eines Salafisten vortragen lässt. In The Act of Killing hingegen tritt - vergleichbar radikal - eine Handvoll indonesischer Kriegsverbrecher höchstpersönlich und unmaskiert vor die Kamera.
Gangsterfilme als Vorbild
Die Männer erzählen nicht nurrelativ unbekümmert, wie sie ab 1965 politisch motivierte Morde durchführten. Sie spielen ihre Taten an den Originalschauplätzen vor, und sie verkörpern schließlich in einer perversen Wendung auch die Opfer. Die Wirklichkeit und die Fiktion sind hierbei nochmals eng verquickt: Denn die Auseinandersetzung mit der realen Vergangenheit wird in einem Film-im-Film-Projekt gebündelt, für das zum einen US-Gangsterfilme als Vorbilder dienen (in denen gibt es bekanntlich "viele coole Arten zu töten") und zum anderen ein antikommunistischer Propagandafilm, der die Mörder damals zusätzlich anstachelte, wie sie heute sagen.
"Als wir die Mörder trafen, erzählten sie voller Stolz von ihren Taten", heißt es auf Textinserts zu Beginn des Films. Einmal folgt das Filmteam den Protagonisten zu einer Talk-Sendung namens Besonderer Dialog in ein Fernsehstudio. Die Stimmung ist heiter, wenn überhaupt, dann wirkt die Moderatorin eine Spur irritiert.
Das Publikum besteht aus Mitgliedern der paramilitärischen Pancasila-Jugend in orange-schwarz-gemusterten Camouflage-Outfits. Aber vielleicht sind das ja auch nur Statisten? Dass man in Act of Killing nicht immer unterscheiden kann, wo die Inszenierung beginnt, wirkt in beide Richtungen. Das ist ein Nachteil der Vermischung von Spiel und Realität.
Andererseits ermöglicht Act of Killing intensive Einblicke in ein auch im Westen bis heute wenig beachtetes Kapitel indonesischer Vergangenheit. Es liefert (zum Teil bizarre) Momentaufnahmen von Tätern - die ihre Vergangenheit eben nicht im psychologischen Sinn durcharbeiten, sondern durchspielen.
Erhellend und beklemmend ist darüber hinaus die Feststellung, dass sich vor Ort über Jahrzehnte offenbar kein gesellschaftlicher Konsens darüber entwickeln konnte, dass diese Männer Täter, Kriegsverbrecher, und als solche zu verurteilen wären. Daran orientierte sich ihr Selbstbewusstsein - zumal der Kontext und die Machtverhältnisse, in denen sie einst agierten, lange ungebrochen fortzuleben schienen.
Dass sich dies seit der Veröffentlichung von The Act of Killing in Indonesien und durch die Zusammenarbeit mit vielen lokalen Einrichtungen und NGOs zu ändern beginnt, ist ein gar nicht zu unterschätzendes Verdienst von Oppenheimers Unternehmung. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 20.2.2014)