Im Auge der Kamera: Was passiert, wenn die Überwachten den Überwachern über die Schulter schauen wollen, hat der Rechtssoziologe Robert Rothmann in Feldexperimenten erprobt.

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Wer sich durch die Stadt bewegt, ist ständig im Visier. Auf dem Weg zur Arbeit, beim Einkaufen, im Restaurant, im Club, im Museum - irgendwo läuft immer eine Überwachungskamera mit. Was weniger bekannt ist: Jede Person, die ins Blickfeld einer Kamera gerät, hat das Recht, das Videomaterial, auf dem sie zu sehen ist, zu sichten und ausgehändigt zu bekommen. Zumindest in der Theorie.

Wie das sogenannte Auskunftsrecht, das im Datenschutzgesetz festgeschrieben ist, in der Praxis gehandhabt wird, hat der Rechtssoziologe Robert Rothmann herausgefunden. In einer von der Kulturabteilung der Stadt Wien geförderten Studie führte er eine Reihe von Feldexperimenten durch: Ausgerüstet mit einer Fotokamera und einer Liste der zentralen datenschutzrechtlichen Bestimmungen klapperte er 18 ausgewählte Standorte von Überwachungskameras ab, darunter Trafiken, Banken, Modegeschäfte, öffentliche Kulturareale, Verkehrs- und Gastronomiebetriebe.

Der Ablauf war immer gleich: Zuerst bestimmte er die Position der Überwachungskamera und fotografierte das "Setting", dann suchte er eine Ansprechperson, um gemäß dem Auskunftsrecht die Videodaten zu verlangen, die ihn betreffen. Laut Gesetz muss dies innerhalb einer Frist von acht Wochen geschehen. Ziel der "mikrosoziologischen Analyse" war es, die formale Umsetzung der Auskunftsanfrage und die Reaktionen der Verantwortlichen zu dokumentieren.

Dabei stieß Rothmann auf erhebliche Widerstände: "Die Erfüllung des Anspruchs wird tendenziell verweigert. Die Betreiber weichen aus, halten einen hin oder speisen einen mit unzureichenden Informationen ab. Es wird sowohl indirekt als auch offenkundig vermittelt, dass die Anfrage unerwünscht ist", berichtet der Soziologe, der an der Universität Wien und beim Forschungsinstitut Mediacult tätig ist.

Aggressive Tonlage

Während kleinere Betriebe mit seiner Anfrage meist schlicht überfordert waren und teils gar nicht in der Lage waren, die Überwachungskameras richtig zu bedienen, war es bei größeren Unternehmen ein Problem, eine zuständige Ansprechperson zu finden. "Man wird zwischen Securities, Haustechnikern, Store Managern und der Rechtsabteilung herumgereicht. Die Reaktionen waren nicht einheitlich. Teilweise ergaben sich freundliche Gespräche. Der Grundtenor war jedoch abweisend, teilweise wurde aggressiv reagiert", schildert Rothmann. Den Überwachern über die Schulter zu schauen kann ziemlich unangenehm werden: "Wer Fragen stellt, macht sich verdächtig", sagt Rothmann.

Das Ergebnis spricht für sich: Nur in fünf der 18 Fälle wurde das Videomaterial ausgehändigt - in drei davon fehlten aber wesentliche Informationen oder wurden nur einzelne Screenshots geschickt. In nur zwei Fällen wurde eine "rechtlich unbedenkliche" Auskunft erteilt.

Manche Betreiber hätten Fehler durchaus eingestanden. Wiederholt wurde jedoch beteuert, dass gerade jene Kamera, deren Bilder gefragt waren, zufällig nicht gespeichert hätte oder seit kurzem defekt sei, erzählt Rothmann. Im Zuge der Studie tauchten zudem "in einem Großteil der untersuchten Fälle" weitere Verstöße gegen das Datenschutzrecht auf: Hinweisschilder fehlten, die Meldepflicht bei der Datenschutzbehörde wurde missachtet, die Speicherdauer teils exzessiv überschritten, die Daten noch während der Auskunftsanfrage gelöscht, von der Anfrage nicht betroffene Personen wurden nicht ausreichend anonymisiert.

"In einigen Fällen diente das Videoüberwachungssystem scheinbar eher der Kontrolle von Mitarbeitern als der Kriminalprävention. Ein Betreiber machte sogar Tonaufzeichnungen, was bedeutet, dass alle Kunden- und Mitarbeitergespräche aufgezeichnet werden", stellte Rothmann fest.

Konsequenzen für die Verstöße wird es allerdings keine geben: "Ich bin kein Datenschutzaktivist", erklärt der Soziologe. "Mir ging es darum, die Diskrepanz zwischen rechtlichen Vorschriften und der praktischen Umsetzung aufzuzeigen. Nach Abschluss des Projekts wurde den Betrieben auch mitgeteilt, dass von rechtlichen Schritten abgesehen wird."

Bei der Datenschutzbehörde kann jeder Beschwerde gegen eine Videoüberwachungsanlage einlegen. 130 Beschwerden gab es im Jahr 2013, wobei nur zwei das Auskunftsrecht betrafen, heißt es auf Nachfrage. Viele Fälle würden die Videoüberwachung in Geschäftslokalen oder eine unzureichende Kennzeichnung betreffen.

Die zahlreichen Verstöße, Zurückweisungen und Auskunftsverweigerungen interpretiert Rothmann jedenfalls als "Geringschätzung" eines verbrieften Rechtsanspruchs. Für ihn bestätigt die Studie eine "für die Überwachung typische Asymmetrie": "Während die Betroffenen der Überwachung ausgeliefert sind, entzieht sich das Überwachungssystem der Einsicht."

Rothmanns Schlussfolgerungen: "Letztlich ist das Auskunftsrecht, das eine faire Behandlung auf Augenhöhe garantieren soll, bei der Videoüberwachung praktisch nicht durchsetzbar - eine Entwicklung, die für alle Überwachungsarten symptomatisch ist."

Technische Grenzen

Abgesehen davon entlarve die Studie, dass Überwachung "längst nicht so ausgefeilt ist, wie es nach außen dargestellt wird". Dass Videoüberwachung nicht unbedingt mehr Sicherheit bringt, hat Rothmann bereits in anderen Forschungsarbeiten, etwa am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie und am Institut für Technikfolgenabschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, dargelegt.

Am Institut für Höhere Studien war er zuletzt an einem Projekt des vom Wirtschaftsministerium betriebenen Sicherheitsforschungsprogramms Kiras beteiligt, das den Einsatz von "intelligenten" Videokameras testete - und auch die technischen Grenzen von Überwachungstechnologien aufzeigte: "Wir sind noch weit entfernt von automatischer Erkennung von Personen und abweichendem Verhalten", sagt Rothmann. Es gelte, ein informationelles Gleichgewicht zwischen Überwachern und Überwachten herzustellen. "Es ist nicht nur die NSA, die nichts einsehen lässt, es fängt beim kleinen Trafikanten ums Eck an." (Karin Krichmayr, DER STANDARD, 19.2.2014)