Eine um ihr Glück gebrachte Ehefrau inspiziert mit ihren Söhnen den Schauplatz des Ehebruchs: Uma Thurman in einer der großartigsten Szenen von Lars von Triers epischem neuem Film "Nymphomaniac".

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Wien - Lars von Triers Nymphomaniac ist das erste Überraschungsei dieses noch jungen Kinojahres. Er wird all jene enttäuschen, die mit einem vorgefassten Bild ins Kino gehen. Wer sich etwa von den Plakaten anspitzen lässt, welche die Stars des Films in Orgasmus-Posen zeigen, wird sich betrogen fühlen. Von dieser spekulativen, etwas zu gut ausgeleuchteten Ästhetik hat der Film nämlich gar nichts.

Dass um den Film ein veritables Fassungschaos herrscht, macht die Sache auch nicht leichter: Im Kino startet eine um 90 Minuten kürzere Version. Der Director's Cut, der auf der Berlinale präsentiert wurde, ist allerdings nicht nur an expliziten Details manchen Sexualakts reicher, es wird auch einfach ausführlicher geredet. Lars von Trier schien es insgesamt um ein stärkeres Zusammenwirken von Anschaulichkeit und Auseinandersetzung zu gehen.

Schamhaft ist die kürzere Fassung, von der nun wiederum erst die erste Hälfte ins Kino kommt (Teil zwei folgt Anfang April), jedenfalls auch nicht. Die übel zugerichtete Joe (Charlotte Gainsbourg) wird zu Beginn von dem Fremden Seligman (Stellan Skarsgård) auf der Straße aufgelesen. Bei einem Glas Tee beginnt sie, ihm ihre sexuellen Obsessionen anzuvertrauen. Die Anordnung hat etwas Fadenscheiniges, Konstruiertes an sich: Warum sollte sich eine Frau einem Fremden auf diese Weise öffnen? Spricht sie überhaupt die Wahrheit? Und warum hält der Fremde beständig Stichwörter und Vergleiche bereit, um die Aussagen in andere kulturelle Zusammenhänge zu führen?

Nymphomaniac lässt an eine episodische Abhandlung denken, an ein nicht immer ganz ernst gemeintes Seminar, in dem ständig neue Schichten eines Phänomens freigelegt werden: Beichte, Geständnis, freie assoziative Rede, politisches Pamphlet. Das ist eine Form, die Lars von Trier große stilistische Freiheiten gewährt. Er kann, je nach Ausrichtung der Szene, seine Tonart beliebig oft variieren.

Dass Nymphomaniac im Vergleich zu den selbstbezüglicheren Filmen Antichrist und Melancholia reichhaltiger und vor allem weltoffener erscheint, liegt an dieser Wendigkeit. Im ersten Teil des Films wird die junge Joe in Rückblenden von der 22-jährigen Newcomerin Stacy Martin gespielt, als androgyne, leicht arrogant wirkende Figur, die kaum Emotionen zeigt. Ihre Entjungferung durch einen Mechaniker (Shia LaBeouf) setzt sie selbst gelassen durch; die insgesamt acht Stöße, in denen sich diese vollzieht, geben dem Film auch gleich viele Kapitel vor.

Subversion und Religion

Es ist die Geschichte eines weiblichen Begehrens, das sich keine Beschränkungen auferlegt und deshalb in der Liebe seinen Gegner finden muss. Joe wertet Liebe als Idee, die jene Kräfte von Sexualität zähmt, über die kein gesellschaftlicher Konsens herrscht. In dem promiskuösen Club, dem sie sich anschließt, darf man mit jedem Mann nur einmal schlafen. Der Schlachtruf lautet dort "Mea maxima vulva" - schon an diesem Loblied auf das eigene Geschlecht kann man erkennen, dass die Subversion über die Vorgaben der Religion verlaufen muss.

Joe ist tatsächlich nicht frei von Skrupeln und bezeichnet sich gegenüber Seligman wiederholt als schlechter Mensch. Doch Nymphomaniac bildet solche moralischen Verkürzungen nicht ab, sondern fügt sie, durchaus spitzbübisch, in eine Art platonischen Dialog ein, in dem keiner so schnell recht behält. Die eifrige Art, mit der Seligman sein Wissen vermitteln will, wirkt bald ebenso zwanghaft wie Joes Eskapaden. So ähnlich hat Lars von Trier schon in Idioten und Dogville an liberalen Grundsätzen westlicher Gesellschaften gerüttelt.

Abgesehen davon zeigt sich der Regisseur endlich wieder in Komödienlaune, ohne sein Thema nicht gleichzeitig auch ernst zu nehmen. Schon das erste Kapitel, in dem ein Wettbewerb um schnellen Sex im Zug mit der Kunst des Fliegenfischens verglichen wird, bewegt sich im satirischen Bereich. In der besten Szene von Teil eins spielt Uma Thurman eine erboste Ehefrau, die mit ihren adretten Knaben den "Tatort" des Ehebruchs inspiziert. Da wird deutlich, wie souverän von Trier den Irrwitz solcher Situationen zu steigern vermag.

Brüche, Stilwechsel und (bewusste) Ungereimtheiten bleiben Regel des Films. Es gibt auch schmerzvolle Episoden, über Joes Vater (Christian Slater), dessen qualvollen Tod die Tochter aus der Nähe erlebt und mit Sex zu verdrängen versucht. Des Vaters Liebe für Botanik begeistert das Mädchen: besonders der schönste Baum im Wald, die Esche, das mythologische Bild einer Nymphe, die erst im Winter ihren Makel zeigt. In diesem poetischen Bild eines sonst so unbekleideten Films steckt vielleicht sein Kern. Wer lange genug auf den Makel schaut, begreift, dass ohne ihn kein Leben ist. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 19.2.2014)