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Anna Mitgutsch:
Familienfest
€23,20/ 408 Seiten. Luchterhand, München 2003.

Foto: Archiv
Anfang und Ende: Edna, die unverwüstliche, steinalte Familienmatriarchin, feiert zum letzten Mal mit ihren Verwandten das Pessach-Fest in ihrer Wohnung. Was die Eingeladenen nicht wissen, ist, dass Edna sehr bald in ein Altersheim umziehen wird.

Edna ist das Gedächtnis der Sippe. Schon auf den allerersten Seiten wird der Leser mit Namen und Einzelheiten überschüttet. Ein Bach, der zu einem Strom anschwillt, in dem Dichtung und Wahrheit von Edna tradiert, gleichberechtigt nebeneinander stehen. Es ist die Geschichte jüdischer Auswanderer, die die alte Frau bewahrt. Diese lange, von unglaublichen Zufällen bestimmte Geschichte von Menschen aus einem idyllischen griechischen Dorf und einem polnischen Stetl, die in Boston aufeinander trafen und den Aufstieg schafften.

Anna Mitgutsch stellt ihre verzweigte Familienchronik in den Rahmen der rituellen jüdischen Feste und schafft so eine äußere Struktur für etwas, das sich ansonsten nicht wirklich strukturieren lässt: das Auf und Ab des Lebens selbst. Das Glück und die Katastrophen, behinderte Kinder, unpassende Heiraten, Untreue und Krankheit.

Edna, immer noch elegant und vital, redet gegen das Vergessen und den Tod an. Sie bemüht sich, die Familiengeschichte nicht zuletzt der jüngsten zwölfjährigen Enkelin Adina weiterzugeben, damit diese Erzählungen mit Glück noch etwa 80 Jahre tradiert würden.

Erinnern: das, was im Ritus vorgeschrieben ist, das Zitieren aus den heiligen Schriften, die Geschichte der Juden zu wiederholen und den Jüngsten verständlich zu machen, geschieht durch die Männer. Sie sind für das Überzeitliche zuständig. Die Frauen hingegen bewahren das Gedächtnis der Sippe, der Individuen. Und es sind alles starke Frauen, die darauf achten, dass die Kette der Generationen nicht zerreißt. Eigenwillig, beharrlich, auch unversöhnlich, wissen sie, dass der Mensch zum Menschen wird, indem er sich erinnert. Solange die Nachkommen ihrer Vorfahren gedenken, exsistieren diese und die Nachfahren durch sie.

Und auch wenn manchmal die Jungen rebellieren, nichts mehr von ihrem Judentum wissen wollen, in andere Länder heiraten, die Kontakte abbrechen, irgendwann holt sie ihre Herkunft ein. Sie erscheinen in der Mitte der Familie und wenn es nur zum Begräbnis Ednas ist, das die verzweigten Generationen noch einmal vereint.

Mitgutsch spart die konkreten Erinnerungen an den Holocaust aus, der natürlich immer als dunkle Folie hinter den einzelnen Schicksalen steht. Aber damit macht die Autorin den Grundgedanken universell gültig und für alle Leser aus allen Religionen und Kulturen nachvollziehbar.

Parallel zur Geschichte der Familie wird die historische Entwicklung der Stadt Boston erzählt. Mit dem Prosperieren der Stadt ändern auch die Einwanderer ihre Wohngegend. Sie siedeln sich bald in den vornehmen Villenvierteln an, ein sichtbares Zeichen ihres Erfolges, der Verwirklichung des amerikanischen Traums. Pessach und Thanksgiving gehen eine vorsichtige, aber doch tragbare Allianz ein.

Ausgerechnet Adina, die eine katholische Mutter hat und deren Großmutter wegen ihres skandalösen Lebenswandels und ihrer scharfen Zunge so gut wie aus der Familie verbannt gewesen war, ausgerechnet diese junge Adina beschließt, all die sagenhaften Städte und Länder, aus denen ihre Vorfahren stammen, aufzusuchen. Sie hat den unausgesprochenen Auftrag ihrer Ahnin übernommen. Der Strom der Erinnerung wird weiterfließen.

Mitgutsch hat einen sehr weiblichen Roman geschrieben, wunderbar menschlich und tröstlich. Und auch wenn man das Gefühl hat, dass sich die ganze Geschichte in geschlossenen Räumen abspielt, in Häusern und Wohnungen, ist der Horizont unendlich weit - und diese weite Perspektive ist ein Kennzeichen ihres ganzen Werkes. (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 16./17.8.2003)