"Zwischenmenschlich gibt es keinerlei Barrieren." Migrant Stefan Ratschan vor der Nationalen Technikbibliothek in Prag.

 

Foto: Gerald Schubert

Die Reduta gehört zu Prag, und Prag gehört zur Reduta. Seit fünf Jahrzehnten ist der Jazzclub an der Nationalstraße eine fixe Größe im Kulturleben der Stadt. Vor dem Haus, auf halbem Weg zwischen Wenzelsplatz und Moldauufer, tobte im November 1989 jene Studentendemonstration, die das Ende des kommunistischen Regimes einläutete. Einst war die Reduta Treffpunkt tschechischer Dissidenten; später war sie Stammlokal von Präsident Václav Havel. Bill Clinton spielte hier sogar einmal Saxofon.

Wenn heute in der Reduta die Back Side Big Band auftritt, dann drängen sich auf der kleinen Bühne 20 Musiker: 19 Tschechen und der Keyboarder Stefan Ratschan aus Österreich. Im Brotberuf ist Ratschan Abteilungsleiter am Institut für Informatik der tschechischen Akademie der Wissenschaften in der Hauptstadt Prag; nebenbei unterrichtet er an der Hochschule für Technik Systemtheorie.

"Technische Systeme wie etwa einen Zug oder ein Flugzeug kann man durch mathematische Formeln beschreiben", erklärt der 42-Jährige seinen Beruf. "Ich versuche anhand dieser Formeln zu beweisen, dass die Systeme korrekt funktionieren."

Vor sieben Jahren hat Ratschan sich in Prag niedergelassen - in Österreich sah er als Wissenschafter keine Chance auf eine feste Stelle. Tschechisch sprach er anfangs gar nicht, mittlerweile hält er in der Landessprache sogar Vorlesungen. Die Stadt und ihre Menschen hätten ihm die Integration leicht gemacht: "Zwischenmenschlich gab es keinerlei Barrieren, ich war hier immer willkommen."

Rund 3500 Österreicher in Tschechien

Stefan Ratschan ist einer von knapp 3500 Österreichern, die derzeit in Tschechien einen Wohnsitz haben. Der Wegfall der Bürokratie durch die gemeinsame Mitgliedschaft in der EU ist für die meisten von ihnen ein Segen: Kein Anstellen in den einst berüchtigten Schlangen vor der Prager Ausländerpolizei, keine Aufenthaltserlaubnis, keine Arbeitsgenehmigung. Und keine Diskriminierung.

Als der österreichische Student Jan Krcmar im September 2003 für ein Auslandsjahr nach Prag kam, war das noch anders: "Ich habe fast jede Woche gemerkt, dass ich als Ausländer bestimmte Rechte nicht hatte - und seien es nur Ermäßigungen für Baguettes in der Mensa", erinnert sich der heute 34-Jährige. Im Studentenheim sei er deshalb gleich nach dem EU-Beitritt Tschechiens im Mai 2004 zum "Kämpfer für die Rechte der Unionsbürger" geworden.

Jan Krcmar wurde in Prag geboren, als kleines Kind emigrierte er mit seinen Eltern nach Wien. 2006 folgte er einem Jobangebot und kehrte abermals zurück in seine Geburtsstadt. Verständigungsprobleme gab es nicht, Krcmar ist in Wien zweisprachig aufgewachsen. Trotzdem stieß er in Tschechien weiterhin auf Hürden, die längst hätten beseitigt sein sollen: "Es hatte lange gedauert, bis auch die letzten Beamten am Arbeits- oder Finanzamt die EU-Richtlinien problemlos umsetzten. Da habe ich gemerkt, wie schwer ich es erst hätte, wenn ich nicht EU-Bürger in einem EU-Land wäre."

"Migrant war ich in Wien"

Trotz aller Erleichterungen ist in Österreich die befürchtete Flut von Migranten aus "dem Osten" nach 2004 ausgeblieben. Auch das Ende der Übergangsfristen auf dem Arbeitsmarkt sieben Jahre später brachte keine Massenzuwanderung aus den neuen Mitgliedsländern: 2013 lebten in Österreich gerade mal 10.000 Tschechen. Die Mobilität in den strukturschwachen Grenzregionen Tschechiens ist nur schwach ausgeprägt, Prag wiederum bietet eine hohe Lebensqualität - und laut Eurostat sogar einen höheren Kaufkraftstandard als Wien.

Auch Jan Krcmar ist geblieben. Er arbeitet nun in der Solarbranche. Unlängst hat er geheiratet. Ob er sich als Migrant in Tschechien fühlt? Die Antwort kommt prompt: "Migrant war ich als Kind in Wien." Heute ist er Prager. (Gerald Schubert aus Prag, DER STANDARD, 18.2.2014)