Sartre lässt sich abwandeln: Die Erleuchtung, das sind die anderen. Wer erleuchtet werden will, der sollte hin und wieder fasten. Das hat sich schon lange unter einigen Säulenheiligen und deren Anhängern herumgesprochen. Bis zu mir ist die Kunde von diesem Begriff leider nicht rechtzeitig vorgedrungen, eine Säulenheilige wird nicht mehr aus mir, auch keine entgegeneilende Anhängerin, die sogenannte Säulenheiligeneilige. Unter Heilfasten verstand ich simples Gemüt eine Kur, nicht unähnlich einer geleiteten Diät, mit Sport und allem Drumherum. Neun Tage Enthaltsamkeit waren schnell gebucht, da alles Unheil dieser Welt meist schnell erledigt ist oder wenigstens seine Einleitung.
Vor Ort stellte ich fest, dass wir mitnichten ärztlich geleitet Diät halten würden, sondern mit allerlei esoterischem Schnick und ayurvedischem Schnack ganz einfach nix zu fressen bekamen - bis auf ein Schälchen Apfelmus in der Früh und ein Schälchen Gemüsebrei am Abend. In Portionsgrößen und auch im Geschmack dem Babybreipamp entsprechend, den ich seinerzeit dem armen Kind zugemutet hatte. Alles im Leben kommt zurück, das schwöre ich, einfach alles. Des Kindes Lust, mit beiden Händen in die volle Schale zu dreschen wurde mir - Jahre zu spät - endlich verständlich. Die anderen Teilnehmer saßen mit Gesichtern, die perfekte innere Einkehr nach außen zeigten - und vermutlich in Gedanken an die abendlichen Einläufe versunken -, ganz gesittet um den leeren Tisch.
Jene Kursleiterin, deren Webseitenprofil von besonders vielen Wiederholungen des Wortes "Liebe" durchsetzt war, verschanzte sich mit gefängniswärterreif strengem Gesicht hinter der Rezeption und ließ uns nicht aus den Augen. Als Begrüßung gab es von ihr einen Becher Abführsalzwasser, das farbtechnisch stark an kräftigem Urin orientiert war und von der Konsistenz eher gallertartig wie der von Stanislav Lem so überzeugend geschilderte außerirdische Ozean auf Solaris. Der Zweifel, ob ich einen eventuell vernunftbegabten Organismus hinunterwürgen sollte, zerstreute sich bald in Richtung eher nicht. Der Zweifel, ob ich mich unabsichtlich beim Dschungelcamp angemeldet hatte, verstärkte sich hingegen.
Am zweiten Tag überlegte ich ernsthaft, mich am Futter des mitreisenden Hundes zu vergreifen. Am dritten Tag sagte die mitfühlende, jedoch nicht mitfastende schnitzelaffine Tochter: "Ich weiß jetzt, was Heilfasten bedeutet. Die Hälfte der Zeit fühlt man sich weise und federleicht, die andere Hälfte will man nur kotzen und sterben gehen." Mit ein wenig Einsicht lässt sich diese Erkenntnis auf das ganze Leben ausdehnen. Diese Erleuchtung ereilte mich am Morgen des vierten Tages, und zu Mittag floh ich samt Hund und Koffer. (Julya Rabinowich, Album, DER STANDARD, 15./16.2.2014)