"Ein Hinschauer sein, kein Zuschauer": Karl-Markus Gauß widerspricht auch dort, wo es billig wäre zuzustimmen.

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1. Homme de Lettres

In seinem jüngsten Buch Das Erste, was ich sah (2013), seinem neunzehnten, wenn ich richtig zähle, erinnert sich Karl-Markus Gauß daran, wie sein Vater ihn in die Welt der Bücher einführte, indem er "grimmige Anekdoten" von Dichtern und Denkern erzählte, die "allesamt wahnsinnig, einsam, der Trunksucht oder dem Roulettespiel verfallen waren und von ihren Zeitgenossen rundum missachtet" wurden.

Der Vater, ein Büchermensch par excellence, als Donauschwabe nach dem Krieg wie die Mutter aus der Batschka nach Salzburg geflüchtet, war der Inbegriff bürgerlichen, nämlich pekuniären Scheiterns und ein Propagandist der Verzweiflung, die den "Keim des Geglückten und Schönen" in sich trug. Also war in der Familie Gauß das Unglück hoch angesehen und wurden die Erfolgreichen verachtet. So gesehen hat Karl-Markus Gauß seinem Vater keine Ehre gemacht, wenn er mit diesem Staatspreis den mutmaßlich achtzehnten großen Preis seiner Karriere erhält.

Die Vorliebe für die Außenseiter, die verkrachten Genies der Literatur, hat der Vater dem Sohn gleichwohl eingepflanzt. Gauß' erstes Buch Wann endet die Nacht (1986) war dem großen expressionistischen Unglückswurm Albert Ehrenstein gewidmet, sein zweites (ich rede hier nur von den selbstständigen Werken) trug den programmatischen Titel Tinte ist bitter (1988) und war eine Hommage an Verfemte, Vertriebene und Vergessene aus dem Herzen der mitteleuropäischen Finsternis, Schriftsteller wie Miroslav Krleza, Bruno Schulz und Theodor Kramer. Wer diese von Neugier befeuerten und mit beinah wütender Verve vorgetragenen Plädoyers und Vignetten liest, erkennt: Gauß war von Anfang an, was er später wurde, Historiker und Reiseberichterstatter, Erzähler und Literaturkritiker, Essayist, Analytiker und Polemiker.

Ein Homme de Lettres, ein Mann der Schrift, ist Gauß nicht so sehr aus Neigung denn aus Not. In einem seiner Journale bekennt er, kein "Denksteller" zu sein, der im Kopf bereits Zurechtgeschnipseltes zu Papier bringt, sondern ein Schriftsteller, der erst beim Schreiben erfährt, was er über ein Buch, eine Sache denkt, der, wie er in schöner Direktheit gesteht, schreiben muss, "weil ich nur im Schreiben so gescheit bin, wie ich sein kann". So ist das Schreiben für den Homme de Lettres, was der Stab für den Stabhochspringer ist: ein Mittel, sich über die eigene Begrenztheit hinauszuschwingen.

2. Der Mann, der nicht ins Sachbuchfach wollte

Auf einer jener Vorschlagslisten des literarischen Betriebs fand ich unlängst Das Erste, was ich sah unter den preiswürdigen Belletristiktiteln, versehen allerdings mit dem Zusatz "Eher Sachbuch?" Was für eine Sache, fragt man sich, sollte das denn sein, für die ein Ich hier einsteht? Die eigene Kindheit? Das provinzielle Lebensgefühl der Nachkriegszeit?

Der Ruf eines Schriftstellers ist mitunter von zementener Nachhaltigkeit. Mit seinen Studien über weiße Flecken auf der literarischen, ethnischen und historischen Landkarte Europas einmal von Buchhändlern und Kritikern und Buchhändlern ins Regal der Sachbuchautoren gestellt, blieb Gauß an seinem Platz, obwohl sein Werk beharrlich vorwärtsdrängte, zu anderen Ufern des Sujets wie der Form.

Natürlich bot Gauß' Europäisches Alphabet (1997) auch Lexikonwissen zur Geschichte des Kontinents, boten Die sterbenden Europäer (2001) Information über marginale Minivölker wie die Gottscheer Deutschen, Sorben und bosnischen Sepharden, natürlich belehrte Der Mann, der ins Gefrierfach wollte (1999) die Leser auch über Praktiken und Abwege der Gentechnologie und war die Expedition Ins unentdeckte Österreich (1998) ein Nachhilfeunterricht in Sachen Widerstandsgeist von 1848 bis heute. Aber Sachbücher? Die müssten doch allemal die Sache über ihre Wahrnehmung durch den Sachkundigen stellen und zuallererst sachlich sein.

Gauß selbst war über die Streitfrage der Zuordnung seines Werks keineswegs erhaben, er sah sich von der Ignoranz der literarischen Platzanweiser beleidigt, die ihm zwar Preise zuerkannten, aber nicht sehen wollten, dass die Sache doch nur eine Ingredienz für den Teig war, aus dem der Meister feinstes Backwerk schuf. Manchmal heiligen eben auch die Mittel (der Form) den Zweck (der Belehrung). Die Verbitterung des Vielgerühmten war nicht allen verständlich. In einem Interview meinte Gauß einmal, er könne sich "über Dinge ärgern, da würden Sie staunen". Die Sachbuchfrage berührt nur das erste Glied einer hierarchischen Kette, die sich am Leitbild des Romans festmachen lässt: Wenn das, was Gauß schreibt, Literatur ist, so liest man, dann wohl am ehesten Essay oder Reisebericht, aber nicht Belletristik und ganz sicher nicht "Fiction". Wirklich nicht?

3. Der Forscher

Wer wie Gauß beim Schreiben in erster Linie selbst klüger werden will, der ist als Forscher ein Egoist. Es lässt sich aber nicht vermeiden, dass er auf diese Weise auch seine Leser klüger macht. Das Hauptmovens des Forschers, der, buchstäblich und metaphorisch, immer auch ein Reisender ist, ist die Neugier. Gauß' Neugier ist ebenso gründlich wie ansteckend. Sie gilt dem, was man gemeinhin versunkenes Kulturgut nennt und von dem KMG uns wissen lässt, dass es zum guten Teil ein versenktes ist. Sie gilt übersehenen Helden und aussterbenden Sprachen, vergessenen Dichtern und Völkern und in negativer Klimax den vergessenen Dichtern vergessener Völker.

Nach Isaiah Berlin, den Gauß zitiert, ist die Nation eine Gruppe von Menschen, die sich in einem gemeinsamen Irrtum über ihre Herkunft befinden. Für die Wurzeln dieses Irrtums und seine produktiven wie zerstörerischen Folgen hat Gauß sich schon immer mehr interessiert als für das Phantom der historischen Wahrheit.

So spürt er etwa, auf Verdreng und Verderb, wie verschollene Dörfer in der südslowenischen Gottschee heißen, einer Geschichte von Armut, Aussiedlung und Volkstümelei nach, die mit der Säuberungspolitik der Sieger 1945 fast ganz zu Ende ging und über die nicht nur Gras, sondern auch Wald gewachsen ist. Ein ausdauernder Waldgänger, nicht nur Im Wald der Metropolen (2010), hält Gauß, was immer er an Besonderem und Sonderbarem findet, den "Sonntagspredigern beim europäischen Hochamt" unter die Nase, die ihren Fuß noch nie in die Schluchten des Balkans gesetzt haben.

4. Der Für- und Widersprecher

Sein Talent zur Begeisterung, seine Charakterisierungskunst setzt KMG nicht zuletzt ein, um die schwächere Sache zur stärkeren zu machen. Als Anwalt oder, wie man in der Schweiz sagt, Fürsprech sucht er frohgemut den verlorenen Posten. Bei aller Neigung zum Abwägen: Die ursprüngliche Antriebskraft seines Für und Wider war wohl doch der Zorn, der gerechte Zorn und dessen Entladung in die Attacke. Wer wie Gauß als Student systematisch die Fackel durchgeackert hat, der bleibt lebenslang verdorben nicht nur für die politische Phrase, sondern auch für die Geborgenheit im Lagerdenken.

Karl Kraus schrieb: "Wer Meinungen von sich gibt, darf sich auf Widersprüchen nicht ertappen lassen. Wer Gedanken hat, denkt auch zwischen den Widersprüchen." Was Gauß zwischen den Widersprüchen denkt, äußert sich als Eigensinn jenseits des Verabredeten. Sein Einspruch gegen den Chor der intellektuellen Alarmrufe nach der blau-schwarzen Wende 2000 etwa richtete sich gegen eine Trivialisierung des historischen Widerstands, der nichts weniger als die Existenz aufs Spiel setzte.

Schon Der wohlwollende Despot (1989) verriet Gauß' Lust, wider den Stachel zu löcken und sich mit seinesgleichen anzulegen. Der Essay zeigt, wie die staatlich geförderte kritische Intelligenz unter Kreisky damit beschäftigt war, die Hand zu beißen, die sie fütterte, und trotzdem der Bevormundung nicht entkam und wie die subversive Unterordnung schließlich auf die Kunst, die Literatur abfärbte: "Nicht Leser galt es zu überzeugen, sondern Ministerialräte."

Gauß' Ingrimm, auch ad personam, sein Widerspruchsgeist, dem kein Gegenstand zu klein und keiner zu groß ist, kommt mitunter als Idiosynkrasie daher und entstammt doch einer fundamentalen Redlichkeit. Gauß widerspricht auch und gerade dort, wo es billig wäre zuzustimmen, einzustimmen, mitzustimmen, wo die Sympathien verteilt sind und die Urteile gefällt. So fragt er angesichts der Gräber der Partisanenopfer im Gottscheer Hornwald: "Haben Gewalttäter, die die Menschenrechte verletzten, selber keine Menschenrechte mehr? Darf man sie malträtieren, lynchen, namenlos ins Massengrab schlagen?" Sobald Griesgrämigkeit droht, wappnet Gauß sich mit Selbstironie: "Zum wiederholten Male bricht die Zivilisation zusammen, nur bin es peinlicherweise diesmal ich, der das beklagt." Kulturkritik ohne Pessimismus ist schwer. Dennoch gelingt Gauß das Unmögliche: den Nörgler und den Optimisten in seiner Person zu vereinen.

5. Der Journalist

In seinem Werk hat KMG allerlei Abwehrzauber gegen die Zumutung des zusammenhängenden Erzählens veranstaltet, indem er ein anderes Ordnungsprinzip suggerierte; ein Buch nannte er "Alphabet", ein anderes "Albumblätter". Dann ging er das Wagnis des Ich-Sagens ein, für das im dicht gewobenen Essay kein Platz war, und startete die Reihe der "Journale": Mit mir, ohne mich (2002), Zu früh, zu spät (2007), dazwischen das "Jahresbuch" Von nah, von fern (2003), dezidiert keine Tagebücher, sondern fein abgestimmte Mixturen aus Essay, Erinnerung und Kommentar.

Erzählt hat Karl-Markus Gauß immer schon, er tut es aber zunehmend ungeniert. Das Journal bietet ihm dafür die Spielwiese, die er mit dem Zufall teilt, nach Peter Altenbergs Prinzip "Was der Tag mir zuträgt": Was der Zufall nicht fügt, ordnet der Autor zur Evidenz.

In den Folgebänden Im Wald der Metropolen und Ruhm am Nachmittag (2012), die sich quasi ihr eigenes Genre schaffen, spielt die epische Komposition eine noch größere Rolle. Das Erste, was ich sah ist der bisherige Höhepunkt auf dem Weg zum Erzähler, das erste im engsten Sinn belletristische Werk, mag es auch nichtfiktional, weil autobiografisch sein, ist es doch fiktional wie alle Autobiografien. Zugleich nimmt Gauß darin den Befreiungsschlag des Journaleschreibens gleichsam wieder zurück, um sich erzählend bloßzustellen: in einem strengen, ja, keuschen Buch der Selbstbeschränkung.

Gauß hat sich nie geschämt, am Tagesgeschäft des Journalismus teilzuhaben, und hat doch das Etikett des "Essayisten" - wie sein von ihm bewunderter Kollege Jean Améry - als wertmindernd empfunden. Dass die kleine Form nicht weniger kunstträchtig sei als der Roman, das hat Gauß zuletzt immer wieder beteuert, aber selbst wohl nicht wirklich glauben können. Als wäre eine Reportage wie Die Hundeesser von Svinia (2004) nicht Beweis genug.

6. Der Satzbaumeister

Zwei Arten von Schriftstellern gibt es nach Karl Kraus: "Solche, die es sind, und solche, die es nicht sind. Bei den ersten gehören Inhalt und Form zusammen wie Seele und Leib, bei den zweiten passen Inhalt und Form zusammen wie Leib und Kleid." Gauß ist einer, der es ist, man kann dem Gemeinten das Gesagte nicht ausziehen, es bliebe nichts davon übrig. Gut möglich, dass, wer den Autor nach dessen äußerer Erscheinung als gemütsvoll-bedächtig einschätzt, angesichts seiner literarischen Messerschärfe erschrickt.

Als Stilist ist Gauß ein leidenschaftlicher Pedant, ein Wortklauber von Gnaden, vor allem aber baut er Sätze: die sind, um eine Lieblingswendung des Dichters Michael Guttenbrunner zu gebrauchen, "gehauen und gestochen". Der Gauß'sche Satz ist beides, kristallin und dynamisch, und indem er die Kräfte, die an seinem Gleichgewicht zerren, zugleich ausstellt und verbirgt, erreicht er, was man Eleganz nennt.

In den ersten Blättern deutscher Zunge hat Gauß sich stets auch der kleinsten Form gewidmet, der Rezension, dem Porträt, der Glosse - und hat es dabei nie billiger gegeben. "The proof of the pudding is in the eating", Literatur besteht ihre Probe beim Lesen. Dafür braucht man Zeit, Zeit für einen zweiten Blick, den die meisten, so Kraus, Gemälden sehr wohl gewähren: "Aber eine Kunst des Satzbaues? Sagt man ihnen, dass es so etwas gibt, so denken sie an die Befolgung der Sprachgesetze." Ein Sprachpolizist, ein kleinlicher Lapsus-Jäger ist Gauß nicht, doch wem die Fackel ein Licht aufgesteckt hat, der versteht Sprachkritik als ethische Bürgerpflicht.

7. Der Hinschauer

Ob es der "Grimassierer von Beaune" ist, dessen "dramatisches Gesichtsspiel" die Essenden im Speisesaal in seinen Bann zieht, oder die Zigeunersiedlung von Svinia, in der Gauß auf atemberaubende Armut und ebensolche Herzlichkeit stößt, manchmal bedarf es des Mutes, den Blick nicht abzuwenden. Der Autor hat sich diese Haltung selbst aufgetragen: "Ein Hinschauer sein, kein Zuschauer!" Hinschauen bedeutet einen punktuellen Willensakt, Anstrengung, statt Konsum, bedeutet Verstehenwollen, auch Überwindung von Scham.

Im Grunde ist Sehen eine Sache der Entscheidung - für das Augenoffenhalten: Gauß zitiert Gustaw Herling, der die "Gabe der Aufmerksamkeit" eine Tugend nennt und ihr Fehlen eine Sünde. Gauß' Sensorium für Kuriosa, vor allem für merkwürdige und literaturträchtige Menschen ist so erstaunlich wie seine nie erlahmende Bereitschaft, sich überraschen zu lassen. Seit 22 Jahren gibt er in einer nicht enden wollenden Verjüngungskur die Zeitschrift Literatur und Kritik heraus, die von Salzburg aus die Verösterreicherung der Welt betreibt, indem sie Österreich ein bisschen weltläufiger macht und die Peripherie Europas ins Zentrum rückt.

Ein Hinschauer ist KMG nicht zuletzt als Fernseher, der auch dort zu- und hinschaut, wo die Gegenwart im Fernsehen zu sich kommt, im Nachmittagsprogramm des Grauens. Gauß hat das böse Wort vom "Amüsierfaschismus" geprägt. Einen wie ihn, der so scharf sieht und dennoch ein "Liebhaber der Welt" bleibt, haben wir bitter nötig. (Daniela Stringl, Album, DER STANDARD, 15./16.2.2014)