Kabul / Neu-Delhi - Kurz vor Ende seiner Amtszeit geht Afghanistans Präsident Hamid Karsai immer offener auf Konfrontationskurs zu den USA. Trotz scharfen Protests Washingtons entließ Kabul am Donnerstag 65 mutmaßliche Militante aus dem früheren US-Gefängnis Bagram. Die USA fürchten als Folge einen gefährlichen Rückschlag im Kampf gegen die Taliban. Bei vielen Entlassenen handele es sich um "gefährliche Personen", erklärten sie. Die USA hatten das Gefängnis Bagram mitsamt 889 Insassen erst vergangenes Jahr an die Afghanen übergeben.
Behördenvertreter Abdul Schukor Dadras verteidigte die Freilassung. Er gehört einer Kommission an, die insgesamt 88 Häftlingsfälle überprüft hatte. Bei den 65 habe es keine stichhaltige Beweislage gegeben. Ähnlich äußerte sich Karsai. Bagram sei eine "Taliban produzierende Fabrik", kritisierte er.
"Ernste Bedrohung"
Washington zeigte sich dagegen entsetzt. Die Freigelassenen stellten eine "ernste Bedrohung" dar. Mindestens 37 der Männer hätten Blut an ihren Händen. Die USA fürchten, dass die Männer sich angesichts des Abzugs der Nato-Kampftruppen Ende 2014 wieder den Taliban anschließen. Washington hatte verlangt, dass die Männer in Afghanistan vor Gericht gestellt werden. "Gefangene dieser Gruppe waren direkt an Attacken beteiligt, bei denen 32 US- oder Nato-Soldaten und 23 afghanische Sicherheitskräfte und Zivilisten getötet oder verwundet wurden", so das US-Militär. Die Freilassung ist nur der jüngste Eklat der ehemaligen Verbündeten.
Für Afghanistan ist 2014 ein Schicksalsjahr: Im April wählt das Land nicht nur einen neuen Präsidenten; ab Ende des Jahres soll Afghanistan auch selbst für seine Sicherheit sorgen. Doch die Zukunft scheint ungewiss. Viele Experten zweifeln, dass die afghanischen Truppen in der Lage sind, die Taliban in Schach zu halten.
Zudem geht Karsai immer mehr auf Distanz zu den USA. Nach zehn Jahren an der Macht darf er bei den Wahlen Anfang April nicht mehr antreten, seine Amtszeit wird voraussichtlich im August oder September enden. Je näher sein Abschied rückt, desto mehr pocht er auf die Souveränität seines Landes und setzt auf eine Art Appeasement mit den Taliban, um diesen Friedensgespräche schmackhaft zu machen. So weigert er sich trotz Drängens Washingtons, einen Militärpakt zu unterzeichnen, der es den USA erlauben würde, tausende Soldaten für weitere zehn Jahre am Hindukusch zu stationieren.
Frauenrechte geopfert
Zudem winkte das Parlament jüngst eine brisante Gesetzesänderung durch, die laut Experten darauf hinauslaufen wird, dass Männer, die ihre Ehefrauen, Kinder oder Schwestern schlagen, vergewaltigen oder ermorden, künftig straffrei ausgehen. Verwandte und Ärzte dürfen nicht mehr als Zeugen aussagen. Karsai muss die Änderung noch abzeichnen. Doch der Schritt schürt Ängste, dass die Regierung bereit ist, für einen Deal mit den Taliban die Frauenrechte als Erstes zu opfern.
Viel wird davon abhängen, wer bei den Wahlen Karsais Nachfolger wird. Elf Bewerber haben ihre Kandidatur angemeldet. Als Favoriten werden die früheren Minister und Karsai-Kritiker Abdullah Abdullah und Ashraf Ghani Ahmadzai gehandelt. Aber auch Karsais Bruder Qayum gilt nicht als chancenlos. Bekommt kein Kandidat im ersten Wahlgang die Mehrheit, ist eine Stichwahl notwendig. Dies gilt als sicherheitspolitischer Albtraum. Die Taliban haben gedroht, die Wahlen zu torpedieren. Bereits in den vergangenen Wochen verstärkten sie ihre Angriffe. Schon jetzt bestehen Zweifel, ob es möglich ist, unter diesen Umständen überhaupt freie und faire Wahlen zu gewährleisten. (Christine Möllhoff, DER STANDARD, 14.2.2014)