Träume...: El Lissitzkys "Proun P23, no. 6" (1919)

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...und wie sie zerplatzen: "The Fallen Angel" (1997) von Ilya & Emilia Kabakov

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Wien - Schwarzes Quadrat? In den 1960er-Jahren "existierte in meinem Bewusstsein kein schwarzes Quadrat", sagt Ilya Kabakov. Die schwarzen Quadrate in seinen Bildern jener Zeit würden vielmehr das Schwarz eines geschlossenen Schranks beschreiben. Eine Metapher für das Eingesperrtsein und die Kraft der Imagination, die er auch in der Fabel für Kinder Sitting-in-the-Closet Primakov verwendet.

Die russischen Avantgardisten - wie Malewitsch oder Lissitzky -, die Kabakov "kulturelle Gene" nennt, kamen in der Ausbildung des 1933 geborenen nämlich gar nicht vor. Malewitschs Bücher wurden nicht verkauft, seine Werke nicht ausgestellt, und das einzige Gemälde von Kandinsky im Puschkin Museum sei als Arbeit eines französischen Künstlers ausgewiesen worden, erzählt der 80-jährige, der seit seiner Emigration 1988 mit Ehefrau Emilia in Mattituck nahe New York lebt.

Von "irrationalen Phantomen" spricht er und vergleicht das einmal recht eigenwillig mit einem Gefängnisinsassen, der das Bild einer Frau entwirft, aber von ihr lediglich ein pornografisches Graffiti gesehen hat. Eines dieser Phantome wird nun sogar zum Duettpartner Kabakovs.

Utopie und Realität heißt die von Charles Esche, Direktor des Van Abbemuseums in Eindhoven konzipierte Ausstellung, die nach Stationen in St. Petersburg und Moskau nun im Kunsthaus Graz gastiert. 1987/88 lebte Kabakov sechs Monate als Artist-in-Residence an der Mur; Peter Pakesch, der damals den Kunstverein Graz leitete, hatte ihm seine erste Soloschau im Westen vermittelt. Er war überwältigt von der Offenheit, von Aufgeschlossenheit und der Vielzahl an Möglichkeiten: ein "künstlerisches Paradies", erinnert er sich.

Labormäuse des Experiments

Faszination für El Lissitzkys Werk hätte es jedoch zu keiner Zeit gegeben, nicht einmal besonders viel Interesse, weist Emilia Kabakov im Gespräch mit dem Standard entschieden jegliche Beziehung zwischen den beiden Künstlern zurück. Die Idee zum Projekt kam für beide umso überraschender. Es geht um den Unterschied zwischen beiden. Das, was sie verbindet, ist die Historie. "Lissitzky stand am Anfang dieser Utopie, glaubte, zumindest anfänglich, an die Idee, eine neue Welt bauen zu können. Wenn er der Fantast dieses Experiments war, dann waren wir ihre Patienten." Und Ilya Kabakov schmunzelt: "Sie die Wissenschafter, wir die Labormäuse."

Dieser Logik folgt auch die Ausstellung: Rechts herum geht's zu den Träumen eines Konstrukteurs dieser Utopie, den "Lokomotivführern" Richtung Zukunft, links herum zur Realität, der ein brauner Sockelanstrich ein noch bodenständigeres Aussehen verleiht. Was das Künstlerpaar bewusst einkalkuliert hat, die Macht der Gewohnheit gibt links - und damit Kabakov - den Vorzug: rechts sieht man etwa Lissitzkys bestechende Entwürfe für das kommunale Wohnen, links den tatsächlichen Irrsinn dieser Idee. Dort die heroisch aufragende Redner-Tribüne für Lenin, da das Monument für einen Tyrannen: ein leerer Sockel, von dem das Stalin-Lookalike geflohen ist. Die Avantgarde fühlte sich als Teil einer großen, den Menschen in den Mittelpunkt stellenden Idee: "Sie waren Imperatoren der Theorie, hatten aber keine Pragmatik." Es ist nicht der Glaube an eine Zukunft und der Enthusiasmus mit der diese propagiert wurde, die Emilia und Ilya Kabakov den Vertretern der russischen Avantgarde vorwerfen, es ist ihre Naivität. Schuld an der "Katastrophe" geben sie ihnen keine. Sie hätten zwar dieselbe utopische Mentalität wie Lenin oder Stalin gehabt, aber "ihre Experimente mit Farbe und Quadraten waren wenigstens nicht gefährlich". Die Mörder waren andere.

Die Kraft der Imagination, die Liebe zur Utopie - wenn auch für andere Ideale - sie dominieren allerdings auch Kabakovs Werk. Als Teil der inoffiziellen Kunstszene Moskaus, die sich genügen musste, weil es keinen Kunstbetrieb - weder Ausstellungen, geschweige denn Markt - gab und sich "ein Paradies in der Mitte der Hölle" schuf, inszenierte er Figuren, die dem Leben entflohen, die sich in den Weltraum katapultierten, die frei wie eine Stubenfliege waren - die also Poesie, aber auch Melancholie von Himmelsmetaphern und den Traum vom Fliegen beschworen. "Ich habe die sowjetische Macht nicht als politisch empfunden, sondern als ein Klima, als ein ewiges Klima von Dunkelheit und Regen". Das Bedürfnis nach aktiver Revolte und Protest hatte er nicht. Man könne nicht seinen Kopf aus dem Fenster halten und sagen: "Hör auf zu regnen!" Eine Resignation in der das Bild der Hermetik übermächtig ist: "Das war die geschlossene Welt, sie war wie ein Panzer, wie ein Straflager."

In der Grazer Schau inszeniert das Künstlerpaar Ilya und Emilia selbst die Schnittmenge mit Lissitzky als bissige Konfrontation: "Künstler als Reformer" steht an der Wand des Avantgardisten, "Künstler als reflektierendes Wesen" selbstbewusst auf der eigenen Seite.

Kosmische Energien

Trotz aller Animositäten können die Architekturmodelle der Kabakovs ihr utopisch-avantgardistisches Potenzial nicht verhehlen: Beispielsweise das Modell für ein "Zentrum für kosmische Energie" (2003) mit seinen wie Raketen himmelwärts strebenden, schrägen Zylindern und den enormen sichelförmigen Stahlkonstruktionen. Die "vertikale Oper" oder "der Palast der Projekte" (beide 1998) erinnern formal an Dinge wie den Tatlin-Turm, also jenes 1917 von Wladimir Tatlin entworfene und die Dynamik der Revolution widerspiegelnde, 400 Meter hohe Turmprojekt. 

Im Mai wird man in Paris in diese Modellwelten eintauchen können: Unter dem riesigen Glasdach des Grand Palais lassen sie die L'Etrange Cité (Die seltsame Stadt) erstehen; mit gekippten Kuppeln, die zu Kabakovs Sinnbildern des Himmelszelts passen, und  Gebäuden, die "das leere Museum", "wie man einem Engel begegnet" oder "die Tore" heißen.

Für die Kabakovs sei dies ein Raum kollektiver Reflexion, ein Ort, der verlangsamen soll, an Gefühle, Sinne und Erinnerungen appellieren. Denn Kunst könne zwar nicht die Politik beeinflussen, aber sehr wohl die Art wie wir denken, träumen, handeln verändern. Sie habe Einfluss auf das Leben des Einzelnen.

Zwei Räume ihrer Pariser Installation tragen die Titel "weiße Kapelle" und "schwarze Kapelle". Zwei Farben, die pur und dominant eingesetzt, in Kabakovs Werk wesentlich sind; auch die Grazer Schau untermauert das. Die Tafelbildserie Am Rand (1974/75) ließ Figuren, die die Leinwand wie einen Fries rahmen, in ein riesiges weißes Zentrum starren. In White Painting (1991) rahmt ein schwarzer Trauerrand eine weiße Leere. Und rund um das Jahr 2000 entstanden Bilder mit einem intensiven, dunklen Loch in der Mitte.

"Zu Beginn spielte das leere Zentrum in meinen Bildern die Hauptrolle; das Weiß ist eine Metapher für Licht, für Möglichkeiten und dafür, dass unsere Welt am Rand des Kosmos steht. Das Zentrum besitzt auch metaphysische und religiöse Aspekte." Die dunklen, schwarzen Themen, würden sich erst seit etwa 15 Jahren in seinem Kopf ausbreiten. Das hat mit den drei Lebensperioden eines jeden Menschen zu tun, sagt Kabakov ohne jede Sentimentalität. "Am Ende musst du von der Bühne weggehen und diese Phase empfinde ich als einen Weg der Richtung Dunkel führt." (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 11.2.2014, Langfassung)