Krasnaja Poljana - Es ist zwar nicht eine der hellsten, aber doch erhellendsten Binsen: dass es im Fall des Nicht-so-gut-Laufens heißt, auch dieser Sportler sei eben keine Maschine, sondern – oho! – ein Mensch.
Am Sonntagabend ist solcherart über den so erfolgsverwöhnt gewesenen Gregor Schlierenzauer geredet worden, weil dieser auf der Normalschanze keine Medaille gewonnen hatte, sondern bloß Elfter geworden war. Auf die unvermeidliche Reporterfrage, wie er sich denn so fühle momentan, blaffte er zurück. Ob man ihm denn das nicht ansehe?
Und wie man das tat! Für einen kurzen Moment erschien hinter der Maske des unbedarften, vom jahrelangen Klopfen schultermaroden, Sportlers der 24-jährige, bisher an Rückschläge offenbar nicht gewöhnte Bub, dem auf einmal die ersten leisen Zweifel an der Gültigkeit des gregorzentristischen Weltbildes schwanen.
Im wirklichen Leben nennt man das "Erwachsenwerden" , im Showsport "Versagen" . In den Worten des Trainers Alexander Pointner: "Es war angerichtet, aber irgendwie hat er das Fressen nicht gefunden." Neunordisch: "Das System hat nicht gestimmt."
In einem anderen, weiter gefassten Sinn mag das wirklich zutreffen. Gerade das System ÖSV hat über die vergangenen Jahrzehnte ein Scouting-, Entwicklungs-, Ausbildungs-, Trainings-, Innovations-, Vermarktungs- und Abwicklungssystem etabliert, das nicht nur hierzulande als vorbildlich gilt.
In den Ecken dieses Systems wuchert allerdings auch der Lurch des unbedingten Egoismus. Schon in den Siebzigerjahren hat ein Rumpelstilzchen namens Toni Innauer sich angesichts des unbeschreiblichen Misserfolges einer heimolympischen Silbernen beinahe in der Mitte auseinandergerissen. Dass er hinter Teamkollege Karl Schnabl sein Silber geholt hat, steigerte die Zornbinkelei erst recht. Schlierenzauers Teamkollege Thomas Diethart wurde Vierter, Michael Hayböck Fünfter, beide waren die springenden Rookies.
Das wurmt wahrscheinlich genauso wie der Umstand, dass Kollege Thomas Morgenstern – er wurde 14. – zwar nicht den Rang, doch aber die Show streitig machte, immerhin kam er sozusagen direkt aus dem künstlichen Tiefschlaf nach Olympia. In der Öffentlichkeit gab’s darob keinerlei Aufschrei, nur beifälliges Raunen übers naturburschenhaft Robuste.
Der Moment, als Gregor Schlierenzauer am Sonntagabend an der Steilküste des Weinkrampfes balancierend mit den Armen ruderte, konnte einem beinahe erkenntnisscharf in die Magengrube fahren: Wem, um Himmels willen, schauen wir da zu? Der Moment war aber eh gleich vorbei. Die televisionäre Orgel vermag ja in Sekundenschnelle in die Dur-Akkorde zu wechseln.
Gegen Mitternacht sprach die Austria Presse Agentur noch mit Alexander Pointner. Der erklärte die Vehemenz der Schlierenzauer’schen Befindlichkeit mit der Größe des Ziels: olympisches Einzelgold. Das allein fehle dem Buben noch zum Glück. "Der hat", zitiert die APA den Coach, "seine ganze Jugend geopfert." Aber das – das Jugend-Opfern – schafft keiner allein. (Wolfgang Weisgram, DER STANDARD, 11.2.2014)