Schriftsteller Michel Houellebecq spielt in "L'enlévement de Michel Houellebecq" einen Schriftsteller, der entführt wird.

Foto: Berlinale

Das Staraufgebot am ersten Berlinale-Wochenende ist beträchtlich. Für David O. Russells 10-fach-Oscar-nominierte Gaunerkomödie American Hustle zeigten sich Christian Bale und Bradley Cooper auf dem roten Teppich, am Samstag präsentiert George Clooney sein NS-Raubkunst-Drama The Monuments Men mit Matt Damon und Bill Murray.

Abseits des Hollywood-Aufgebots ist mit Michel Houellebecq allerdings auch eine Größe der Literaturszene angekündigt. In Guillaume Nicloux' L' enlévement de Michel Houellebecq verkörpert dieser eine Spielart seiner selbst: einen Schriftsteller, der zum Opfer eines Entführungsfalls wird. Mit dem Begriff Opfer ist man in diesem kleinen, räudigen Film, der sich als dokumentarische Arbeit ausgibt, allerdings schon auf der falschen Fährte. Denn der Autor, von einem ungesunden Lebensstil sichtbar gezeichnet, reagiert auf die Männer, die ihn in ein entlegenes Haus abtransportieren, mit großer Gelassenheit.

Solange das Rotweinglas immer wieder aufgefüllt wird und die Zigaretten nicht ausgehen, erweist er den Tätern seinen Respekt und nimmt sogar an nächtlichen Diskussionsgelagen teil. Die grobschlächtigen Entführer finden zunehmend Gefallen an dem derangierten Intellektuellen, man duzt sich freundlich, feiert Geburtstag, sogar eine junge Frau wird engagiert, damit der Literat nachts nicht alleine schlafen muss.

Nicloux' Film ist eine freche Komödie, die mit dem Status Houellebecqs als politisch inkorrektem Provokateur nicht einfach nur spielt, sondern dies mit den Mitteln des Kinos noch einmal zuspitzt. Zwischen den proletarischen Tätern und dem unmoralischen Intellektuellen zeichnet sich eine stille Übereinkunft ab, die den gemeinsamen Feind in einem Establishment hat, das sich weder für muskelbepackte Körper noch für denkerischen Scharfsinn interessiert. Da ist es nur konsequent, dass Houellebecq am Ende noch gegen die repräsentativen Demokratien Europas lamentiert, die an den Vorstellungen des Volkes vorbei regieren.

Ein ausgeprägtes Bewusstsein für moralische Ambiguität beweist auch der überraschend starke Wettbewerbsbeitrag '71 des Briten Yann Demange, der in seiner Heimat bereits mit der BBC-Serie Top Boy Kritik und Publikum begeistert hat. '71 begleitet den britischen Rekruten Gary (Jack O' Conell) ins Belfast des Jahres 1971 - ein Zeitpunkt, an dem sich in der zweigeteilten Stadt Katholiken und Protestanten blutige Straßenkämpfe lieferten.

Unkontrollierbare Lage

In eine solche unkontrollierbare Situation gerät Gary gleich bei seinem ersten Einsatz. Sein Kumpel wird erschossen, er muss sich, zurückgelassen von der Truppe, gejagt von jugendlichen Rebellen, allein durch die Gassen schlagen. Demange entwirft dieses Geschehen äußerst druckvoll, in hyperrealistischen Bildern, bleibt aber nicht auf das Kriegsgeschehen beschränkt, sondern erweitert zunehmend die Perspektiven.

Bald tritt zutage, dass sich Gary auf keiner Seite sicher weiß und zeitweise auch unter Zivilisten Verbündete findet. Die Einsicht, dass im Ausnahmezustand keine Partei sauber bleibt, mag nicht neu sein, doch '71 bricht sie auf ein packendes Drama herunter, das sich keine Misstöne erlaubt. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 8./9.2.2014)