Bitte nicht während der Fahrt abspringen. Warnungen wie diese hört der Wiener Straßenbahnfahrgast nicht mehr. Wozu auch? Wer heutzutage am Ring zwischen Schottentor und Burgtheater schnell einmal von der Bim hüpfen will, müsste die Tür mit roher Gewalt aufreißen oder die Scheiben einschlagen. Bei den neueren Wagengruppen lassen sich die Fenster nämlich nicht mehr öffnen, Türen sind überhaupt schon seit längerem während der Fahrt Sperrgebiet. Doch das war alles einmal anders. Noch vor 50 Jahren kurvten auch offene Wägen durch die Wiener Innenstadt. Auf- und Abspringen war zwar verboten, gemacht wurde es aber dennoch.

Straßenbahnfahren als Beruf war damals den Männern vorbehalten. Und das übrigens länger, als man vermuten möchte. Erst Anfang der 1970er Jahre wurde Frauen das Straßenbahn-Lenken erlaubt. Seit 1940 war das nämlich verboten. An der Kurbel zu arbeiten sei für Frauen "gesundheitsgefährdend", so die Begründung. Das Verbot wurde 1970 aufgehoben, die ersten Frauen schritten zur Tat.

Isolde Feiwikl gehört zu diesen ersten Frauen, die in Wien die Fahrerkanzel in einer Bim eroberten. Ab 1968 arbeitet sie als Schaffnerin, vier Jahre später wird sie auch Fahrerin. "Als ich zur Tramway gekommen bin, haben wir noch offene Wägen gehabt. Die sind dann weggekommen. Mit denen wurde nur noch ins Stadion gefahren, wenn Fußball war. Das war immer a Hammer. Eine Fahrt hin und eine retour, und das war immer lebensgefährlich. Weil die sind ja überall herumgestanden", erzählt Feiwikl während wir in der Remise in Ottakring in einem Straßenbahnwagen sitzen.

Isolde Feiwikl kraxelt in den Führerstand der Straßenbahn, in der wir über ihre Zeit als Straßenbahnfahrerin plaudern.
Foto: derStandard.at/Matthias Cremer

Draußen, wo Ottakrings Straßenbahnen schlafen, arbeiten die Mitarbeiter der Wiener Linien. Drinnen reist Isolde Feiwikl in Gedanken zu ihren ersten Arbeitstagen als Straßenbahnfahrerin zurück. Der 49er, das war ihre Linie. Vom Heimatbahnhof Breitensee bis zur Mariahilfer Straße fuhr sie 14 Jahre lang hin und her.

Vieles hat sich verändert, seitdem Isolde Feiwikl 1984 an ihrem letzten Arbeitstag den Bahnhof Breitensee verließ. Neue Wagen, neue Technik, neue Warnungen an die Fahrgäste. Gemeinsam mit den offenen Wagen aus dem täglichen Bild der Wiener Straßen verschwand natürlich auch die Ansage zur Zughüpferei aus dem Sprachgebrauch.

Was Fortschritt und Veränderung auf der Schiene bedeuten, weiß man vor allem an den Werkbänken. Am südöstlichen Rande von Wien, kurz bevor man im niederösterreichischen Schwechat landet, erstreckt sich über 268.000 Quadratmeter die Hauptwerkstatt der Wiener Linien.

Wie gestrandete Wale liegen halbe und ganze, zerlegte und zusammengebaute Wagen in der Halle. Es wird geschraubt, gelötet, gebohrt und gehämmert. Offene Wunden des öffentlichen Verkehrs. Alles, was nicht mehr so tut, wie es soll, landet hier in der Werkstatt. Die Mitarbeiter überqueren längere Strecken mit Fahrrädern. Auch in der Mechatroniker-Werkstatt teilt man sich vier Räder.

Seltener Anblick: Eine U-Bahn von unten.
Foto: Foto: derStandard.at/Maria von Usslar

Halle neben Halle werden die öffentlichen Transportmittel repariert, zusammengebaut und auseinander genommen. Thomas Weichselbaum, Leiter der Elektronik-Werkstatt und zuständig für die Lehrlingsausbildung bei den Mechatronikern, macht das schon seit 30 Jahren. Im Mai 2013 feierte er Jubiläum.

Gemeinsam mit der 18-Jährigen Simone Winter fiebert er der Prüfung im Februar entgegen. Winter ist im vierten Lehrjahr. Junge Frauen in technischen Berufen, dafür setzen sich Politik und Unternehmen gerne breitenwirksam ein. Frauen sollen raus aus dem Friseurin-Lehrerin-Sekretärin-Lebensentwurf. Mit Töchtertag und Werbekampagnen sollen Mädchen hinter die Werkbank und in die Labore gelockt werden.

Simone Winter wollte immer einen technischen Beruf ergreifen, relativ spät erst wusste sie, was es genau werden sollte. Bei ihr war es eine Familienangelegenheit, denn Vater und Bruder sind beide Mechatroniker. "Hört sich leiwand an", erzählt Winter, habe sie sich gedacht. Jetzt ist sie im vierten Lehrjahr, mit ihrer ersten Einschätzung lag Winter richtig.

Foto: Foto: derStandard.at/Maria von Usslar

Die Tramway war auch für Isolde Feiwikl eine Familiensache. Ihr Mann war ebenfalls bei der Straßenbahn, und schon Feiwikls Mutter war Schaffnerin. Am Anfang habe sie sich schon schwer getan, erinnert sich Isolde Feiwikl. Sie habe nämlich nach der Schrift geredet, aber: "Das geht nicht." Es habe ein wenig gedauert, bis sie sich in den Männerverein eingelebt hatte. Aber dann, dann hat sie es geliebt.

Den alteingesessenen Herren passte die neue weibliche Fahrergeneration nicht unbedingt ins Konzept. Über Jahrzehnte hinweg gab es keine Frauen, die die öffentlichen Verkehrsmittel lenkten. Nicht jeder der Kollegen entpuppte sich als Gentleman. Kleine Gemeinheiten unter Kollegen standen auf der Tagesordnung. "Es gab Kollegen, die nur Fahrer waren. Die sind mit der G'streckten gefahren und du hast hinten alles gekriegt." Das heißt, der zweite Zug musste alle Passagiere auflesen, die der vordere nicht aufgenommen hat.

Ausbildungsleiter Weichselbaum bedauert, dass sich immer noch viel zu wenig Mädchen melden, die sich für Technik interessieren. Nur zirka zehn Prozent der Lehrlinge seien weiblich. In den vergangenen Jahren habe sich da durchaus etwas gewandelt.

Der Beruf werde immer weniger körperlich anstrengend, dafür sei die Geschicklichkeit mehr gefragt. Mit der fortschreitenden Automatisierung und der damit einhergehenden Komplexität kommt dem Mechatroniker immer größere Bedeutung zu. Quasi als menschliche Schnittstelle in der Automatisierung.

Gerade in der Werkstatt verbinden sich die Fäden der Geschichte des öffentlichen Verkehrs mit jenen der Gegenwart. Denn: "Wir müssen alle Fahrzeuge warten können, auch das 40 Jahre alte E1 bis hin zu dem neuesten Wagen", fasst Weichselbaum zusammen. "Es gibt einfache uralte Steuerungen, das Ding ist noch in Betrieb und muss gewartet werden. Dann gibt es aber auch moderne Steuerungen, mit Mikroprozessoren und Computern, die miteinander vernetzt sind. Das muss auch repariert werden."

Isolde Feiwikl ist heute 71 Jahre alt, schon vor vielen Jahren hat sie der Straßenbahnfahrerei den Rücken gekehrt. Zumindest als Beruf. Privat fährt sie immer noch ausschließlich mit den Öffentlichen. Für den Fotografen kraxelt Feiwikl in den Fahrerstand, aber fahren könnte sie damit nicht: "Des ist a Totmann, wir hom an Steigbügel ghobt."

Ihr Revoluzzertum lebte Feiwikl damals in kleinen Akten der Subversion aus. Die "Tellerminen" – flache Kappen, die zur Uniform dazugehörten – hasste sie zum Beispiel. Da schnitt sie sich die Haare so kurz ab, sodass das Kapperl mit den Haarnadeln keinen Halt mehr hatte. Die Mütze trug Feiwikl fortan in einem Sackerl mit sich herum. Auch von den verbotenen hellblauen statt der faden hautfarbenen Strümpfen ließ sich Feiwikl nicht abbringen. Genau so wenig wie davon, ihren kratzenden Uniform-Rock so weit zu kürzen, dass sie sich wohl fühlte.

Auch in der Wiener Werkstatt wollen sich die Arbeiter wohlfühlen. Das Radio läuft, jeder richtet sich seinen Arbeitsplatz nach eigenem Geschmack her. Ganz klassisch, in der Werkstatt hängen auch Pin-Ups an der Wand. Simone Winter hat sich damit abgefunden, es stört sie nicht: "Es soll sich jeder aufhängen, was er will. Gerade in einem solchen Männerberuf muss man einiges tolerieren, auch wenn man es selber anders machen würde. Zum Beispiel: Eine Frau ist viel ordentlicher als ein Mann. Meistens."

Foto: Foto: derStandard.at/Maria von Usslar

Die Schicht-Glocke läutet. Jene, die schon um sechs Uhr morgens in der Werkstatt zu arbeiten begonnen haben, fangen an zusammenzuräumen. Um zwei Uhr ist ihre Schicht um. Am Werkzeugtisch von Simone Winter liegt ein Lichtschranken. Einer jener Sensoren, der dafür zuständig ist, dass die Tür nicht schließt, während man darin steht. Mit zwei Reflektoren wird getestet, ob das Teil funktioniert oder nicht. Wenn ja, dann landet es im Lager. Von dort aus wird es bei Bedarf in eine Straßenbahn eingebaut. Damit während der Fahrt weiterhin keiner abspringen kann. (Text: Daniela Rom, Video: Maria von Usslar, Fotos: Matthias Cremer/Maria von Usslar, derStandard.at, 12.2.2014)