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Wer hätte das gedacht? Die Europawahlen finden erst in knapp vier Monaten statt. Aber quer durch Europa kommt der Wahlkampf bereits voll auf Touren für einen Urnengang, der die Bürger Europas – angeblich – nur wenig interessiert. Aber viele Bürger in den Nationalstaaten spüren zunehmend auch, dass die Neubestellung der EU-Abgeordneten (und in Folge auch der EU-Kommission) doch direkte Auswirkungen auf ihr Leben "zu Hause" hat: im Dorf, in der Region, im Heimatstaat. Die Folgen der Unionspolitik, die gemeinsam mit den Regierungen in Brüssel, Luxemburg und Straßburg gemacht wird, reichen in einer globalisierten Welt weiter in den Alltag hinein als je zuvor.

Genau darum geht’s bei den Wahlen: wie, mit welcher Politik dieses "Eingreifen" auf die nationale Ebene stattfindet. Welche Parteien als Interessenvertreter dabei in den kommenden fünf Jahren das Sagen haben.

Kür der Spitzenkandidaten

Alle europäischen "Parteifamilien" in den 28 EU-Staaten sind gerade dabei, ihre Spitzenkandidaten für die Kampagne zur Neuwahl des Europaparlaments zu küren, bzw. haben dies eben getan und feilen an ihren Wahlprogrammen. Das gilt nicht nur für die "klassischen" Volksparteien wie die christdemokratischen Parteien (EVP) in Europa, für die Sozialdemokraten (S&D), die Liberalen (ALDE) und die Grünen. Diese Fraktionen geben in Straßburg seit Jahrzehnten den Ton an. Auch die Splitterparteien, die Radikalen von rechts und links, die Populisten, tun sich gerade zusammen, um auf "Plattformen" ihre Wahlchancen, die Chance auf Bildung einer Fraktion im EU-Parlament, zu vergrößern – mit gemeinsamen Spitzenkandidaten.

Programm ein Gesicht geben

Der EU-Vertrag und die Parteistatute sehen einen solchen gemeinsamen Spitzenkandidaten auf europäischer Ebene eigentlich gar nicht vor. Die Wähler können die Abgeordneten rein formal nur auf der nationalen Ebene wählen, in jenem Land, in dem sie wohnen und wahlberechtigt sind. Dennoch haben sich die Parteien informell darauf geeinigt, solche Spitzenkandidaten zu nominieren – den Wahlkampf zu personalisieren, um ihren Programmen zusätzlich ein Gesicht zu geben. Es dürfte auch eine große, EU-weit im Fernsehen übertragene Konfrontation der sieben Spitzenkandidaten geben, eine "Elefantenrunde".

Dazu kommt: Die großen Fraktionen haben – ebenfalls informell – vereinbart, dass jener Spitzenkandidat, dessen Parteienfamilie im Mai die meisten Stimmen macht, zum nächsten Präsidenten der EU-Kommission gewählt wird. Damit bekommt die EU-Wahl erstmals in der Geschichte einen ganz besonderen Akzent, weil das Bürgervotum direkt auf die Wahl des wichtigsten EU-Politkers in den gemeinsamen Institutionen durchschlagen würde.

Bis 2009 war es das ausdrückliche Recht der Staats- und Regierungschefs, den Kommissionspräsidenten auszuwählen und einstimmig zu nominieren. Dieser stellte dann das Team der Kommissare zusammen (die sich einer öffentlichen Anhörung unterziehen müssen, anders als Minister auf nationaler Ebene). Und über diese Kommission wurde dann vom EU-Parlament abgestimmt.

Der EU-Vertrag von Lissabon hat diesbezüglich zwei entscheidende Neuerungen gebracht: Die Staats- und Regierungschefs nominieren den Kommissionschef jetzt mit qualifizierter Mehrheit, nicht mehr einstimmig wie bisher. Ein Veto gegen einen Kandidaten durch einen einzigen Staat gibt es nicht mehr. Sowohl 2004 wie 1994 hatten britische Premierminister noch allzu EU-integrationistische Kandidaten aus Belgien blockiert.

Kein Weg am Wähler vorbei

Jetzt heißt es im Vertrag aber, dass die Staats- und Regierungschefs ihre Wahl "im Lichte des Ergebnisse der Europawahlen" treffen. Sprich: Sie werden am Bürgervotum, an den jeweiligen Spitzenkandidaten kaum vorbei kommen, auch wenn die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel betont, dass es diesbezüglich "keinen Automatismus" gebe.

Damit hat der EU-Wahlkampf zweifellos neue Dynamik gekriegt. Es geht Mitte Mai also nicht nur drum, welche Parteien mit welchen Abgeordneten in Straßburg einziehen, sondern auch, welche (Partei)politische Herkunft der Chef der EU-Kommission haben wird. Das Plenum des EU-Parlaments wird im Juli über den Kandidaten abstimmen, die Mehrheit zählt.

Schulz als Erfinder des neuen Weges

Dass das so ist, ist einem Mann zu verdanken, der sich in den vergangenen zwei Jahren selber zu einem der Spitzenkandidaten hochgearbeitet hat: Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, ehemals Chef der SP-Fraktion in Straßburg als Vorgänger des SPÖ-Mandatars Hannes Swoboda. Er hat dieses Prozedere quasi erfunden, selber so vorgeschlagen. Was immer man von Schulz politisch halten mag: Seine diesbezügliche Positionierung war eine strategische Meisterleistung, wie man auch im Lager der größten politischen Gegner, in der europäischen Volkspartei, anerkennt. "Er war der erste, der das ganze Potenzial eines Persönlichkeitswahlkampfs im Europawahlkampf durch den neuen EU-Vertrag erkannt hat", erklärt anerkennend ein prominenter EVP-Abgeordneter, "wir haben das verschlafen".

Schulz ist seit Monaten de facto im EU-Wahlkampf, tritt prominent als Spitzenmann der Sozialdemokraten auf, während die Christdemokraten als weitaus stärkste Fraktion intern noch immer darum ringen, ob der Luxemburger Jean-Claude Juncker oder der französische Binnenmarktkommissar Michel Barnier als Nummer 1 Rennen geschickt werden. Als Alternative stünden der finnische Premierminister Jyrki Katainen und der lettische Ex-Premier Valdis Dombrovskis bereit.

Mitsprache gegen Verdrossenheit

Wie kam das zustande? Schulz hatte diese Idee, dass der Spitzenkandidat der stärksten Fraktion in Straßburg dann Kommissionspräsident wird, gleich bei seinem Antritt als Parlamentspräsident (unter anderem in einem STANDARD-Interview) vorbereitet. Sein Argument: Der Verdrossenheit über Europa sollte man mit mehr Bürgermitsprache begegnen. Kaum jemand nahm das damals besonders ernst.

Aber Schulz gelang es danach, die Idee mit dem Spitzenkandidaten in seiner Parteienfamilie durch enorme Reisediplomatie und Überzeugungsgespräche so einzufädeln, dass es am Ende bei der Entscheidung in der SPE nur einen Kandidaten gab: ihn selbst. Und das, obwohl er über keinerlei Regierungserfahrung verfügt. Er war nie Minister, geschweige denn Regierungschef. Er machte seine Karriere seit 1994 ausschließlich im Europaparlament, wo er von 2004 bis 2012 SP-Fraktionschef war. Er zählt aber inzwischen zu den Schwergewichten der europäischen Politik, ein Kämpfer und brillanter Redner, dreisprachig auf Deutsch, Englisch und Französisch. Wie immer die EU-Wahlen ausgehen – Schulz gehört schon heute zu den Gewinnern.

In Umfragen liegen die Sozialdemokraten derzeit knapp hinter der Europäischen Volkspartei. Wird die SP erste, dürfte Schulz der Präsidentensessel in der EU-Kommission nicht zu nehmen sein.  Schafft er das nicht, könnte er einen anderen EU-Spitzenposten bekommen, etwa als Nachfolger der amtsmüden Außenministerin Catherine Ashton.

Rennen um Spitzenkandidaten

Wie sehr sich die übrigen Parteien Schulz Diktum von viel mehr Demokratisierung und Personalisierung in der EU zu eigen gemacht haben, lässt sich daran ablesen, dass in allen politischen Lagern seither ein richtiges Rennen um die Spitzenkandidaten stattfand bzw. noch läuft.

In der drittstärksten Fraktion, bei den Liberalen (ALDE) zum Beispiel lieferten sich der frühere belgische Premierminister Guy Verhofstadt und der amtierende Währungskommissar Olli Rehn aus Finnland bis Mitte Jänner ein packendes Rennen. Es prallten dabei zwei verschiedene Traditionen liberaler  Europapolitik aufeinander: Rehn stand – unterstützt von den britischen, deutschen und nordischen Liberalen – für eine klassische, eher rechtsliberale Wirtschaftspolitik. Sparen, nationale Verantwortung in der Europolitik zuerst, lautete das Credo.

Verhofstadt (derzeit Fraktionschef in Straßburg) hingegen ist ein leidenschaftlicher EU-Integrationist, eher ein Sozialliberaler. Er drängt auf rasche politische Integration der Eurozone, tritt für einen Schuldentilgungsfonds zugunsten der Programmländer im Süden ebenso ein wie für Eurobonds zur Finanzierung gemeinsamer Wirtschaftsprojekte, um die europäische Wirtschaft in Gang zu bringen. Der Belgier ist ein brillanter Redner und Wahlkämpfer, weshalb der sehr ruhige bis langweile Rehn im letztlich den Vortritt ließ. Offiziell haben die Liberalen eine Doppelspitze.

Doppelspitze der Grünen

Mit einer solchen Doppelspitze gehen (in dem Fall aus Überzeugung) auch die Grünen ins Rennen. Sie haben seit November eine EU-weite Vorwahl durchgeführt. Parteimitglieder und Sympathisanten konnten per Internet für ihre Spitzenkandidaten voten. Das Ganze erwies sich am Ende aber eher als Peinlichkeit: Denn bei circa 380 Millionen Wahlberechtigten in allen 28 EU-Staaten beteiligten sich nicht einmal 24.000 (!) Leute an den grünen Vorwahlen. Für die derzeitige Fraktionschefin Rebecca Harms stimmten etwas mehr als 5000 Grünwähler – aus ganz Europa. Nicht sie wird nun EU-weite Spitzenkandidatin sein, sondern die ostdeutsche Junggrüne Ska Keller, die im Internet noch am besten mobilisierte, im Duo mit dem Franzosen José Bové. Sie kamen europaweit auf weniger als 12.000 Stimmen. Das entspräche umgelegt auf Österreich allein etwa 150 Vorzugsstimmen! Umso größer ist nun die Nervosität im Lager der Eurogrünen.

Neben den Traditionsparteien organisieren sich aber auch die sonst eher aufgesplitterten EU-skeptischen politischen Lager am „Modell Spitzenkandidat“. Beispiel Die Linke. Sie stellt bereits eine Fraktion im Europaparlament, getragen vor allem von den Linken in Deutschland und skandinavischen Gruppen. Für die EU-Wahlen im Mai haben sie nun einen ganz frischen Linkspopulisten als gemeinsame Nummer 1 gekürt: Alexis Tsipras, den Chef der griechischen Syriza, die sich in Athen mit einem scharfen Anti-EU- und Anti-Euro-Kurs profiliert hat. Sie könnte bei den nächsten nationalen Wahlen 2015 die Konservativen unter Premierminister Antonis Samaras als stimmenstärkste Partei ablösen. Das Wahlprogramm der Linken wird eindeutig sein: Die EU sei von Kapitalisten und Konzernen dominiert, man wolle sie "befreien".

Nationalisten wollen gemeinsame Fraktion

Eine "Befreiungsbewegung" der ganz anderen Art gibt es auf der anderen Seite des politischen Spektrums, den Rechtsextremen und Rechtspopulisten um die FPÖ, den französischen Front National von Marine Le Pen und die niederländische "Freiheitspartei" um Gert Wilders oder die Lega Nord. Sie streben gemeinsam mit rechten Splittergruppen aus sieben Staaten die Bildung einer Fraktion an, haben (bisher) aber keinen gemeinsamen Spitzenkandidaten. Aber es ist klar, wer bei ihnen nach den Wahlen in Straßburg die Richtung angeben wird: der Front National und Le Pen, die voraussichtlich die Hälfte der Abgeordneten im Klub stellen dürfte. Für sie ist die EU "eine Diktatur". Den Euro will sie abschaffen. Frau Le Pen ist sozusagen die informelle Spitzenkandidatin des Rechtsblocks, deren Ziele aber nicht völlig mit den anderen Parteien übereinstimmen.

Daneben gibt es zwei weitere "Großgruppierungen" von Rechtspopulisten und Konservativen, die jeweils von Briten geführt werden und bisher ebenfalls eine Fraktion im Europaparlament bilden: Die EU-Skeptiker um Nigel Farage von der britischen Unabhängigkeitspartei (Ukip), die ihre Politik weniger ethnisch definiert, die aber radikale EU-Gegner sind und die Union auflösen wollen, die zu Hause den Austritt Großbritanniens aus der EU betreiben und die Tories von Premierminister David Cameron vor sich hertreiben.

Fast ebenso EU-skeptisch treten inzwischen Camerons britische Konservative auf, die 2009 aus der EVP ausgetreten sind und in Straßburg derzeit mit der tschechischen ODS und der polnischen PiS eine eigene Fraktion (ECR, Konservative und Reformisten) anführen: aber anders als Farage forcieren sie nicht den sofortigen EU-Austritt ihrer Länder. Jedoch, Nationalismus hin oder her: Auch bei der ECR soll ein gemeinsamer Spitzenkandidat antreten. Und es sollte aufgrund ihrer Dominanz in der Fraktion ein Brite sein.

Große Auswahl an Alternativen

Die Wähler in Europa können jedenfalls zufrieden sein: Die Auswahl an politischen Alternativen ist groß. Bereits im Vorauswahlprozess ist eine Spannung in und zwischen den Parteienfamilien aufgekommen wie noch nie seit der Einführung der Direktwahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments im Jahr 1979. An der Wahlbeteiligung wird man ablesen können, ob das der Demokratie in Europa einen Schub geben wird: Sie ist seit 1979 beständig gesunken, von damals 62 Prozent im Schnitt auf zuletzt 43 Prozent bei den EU-Wahlen im Jahr 2009. (derStandard.at, 3.2.2014)