Die Roma-Siedlung von Ardud existiert seit Jahrzehnten. Rund 2300 Personen leben hier.

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Margaret (l.) und ihre Tochter Gerhild vor dem Haus der Familie S. in der Roma-Siedlung von Ardud.

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Ilona (l.) und Melinda Kardos sind im Roma-Viertel aufgewachsen. Beide haben einen Hochschulabschluss.

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In diesem Haus lebt Gisella mit ihren Kindern. Nachts schlafen zwölf Personen in einem Raum.

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Ein einziger Weg in der Roma-Siedlung ist asphaltiert - und das erst seit einem halben Jahr.

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Der Himmel von Ardud liegt Gerhild zu Füßen. In den schlammigen Pfaden der Roma-Siedlung steht zwischen Matsch und Schneerändern das Wasser, über dessen glatte Oberfläche an diesem klaren Jännertag feine Wölkchen wandern. Bis schmatzende Schritte die Bilder verzerren: Gerhild S., 16 Jahre jung, lange Locken, schwarz wie ihr Mantel, bahnt sich einen Weg. Es taut an diesem Jännertag, im Nordwesten Rumäniens, keine 40 Kilometer von Ungarn entfernt.

Gerhild tappt vorbei an eingeschossigen Häuschen – Flickwerke aus Ziegeln, Spanplatten und Wellblech, in denen ihre Nachbarn wohnen; vorbei an Pferden, die noch darauf warten, vom Fuhrwerksgeschirr befreit zu werden. Sie biegt in ein blassgelbes Haus mit weißen Fensterrahmen ein. Hier wohnt sie mit ihren Eltern und dem sechsjährigen Bruder. Die Veranda ist besenrein, drinnen, zwischen pinkbemalten Wänden, auf glattgestrichenen Teppichen, wärmt ein grüner Kachelofen die klammen Finger.

Zwölf Personen in einem Raum

Ein paar Dächer weiter, gleiche Siedlung, anderes Haus: Nachts schlafen zwölf Personen in einem keine 30 Quadratmeter messenden Raum. An drei Wänden lehnt je ein Bett, an der vierten ein alter Ofen, an dem Hausherrin Gisella Eintopf kocht und in dem auch dann ein Feuer flackert, wenn kein Essen darauf köchelt. An der Decke baumelt eine Glühbirne, deren schwaches Licht den Blick zu vernebeln scheint. Oder ist es der Ruß der Jahre, der die Möbel überzieht?

Die Romasiedlung mit seinen etwa 2300 Bewohnern existiert seit Jahrzehnten in der Kleinstad Ardud, die gut 6500 Einwohner zählt. Im Sommer verdingen sich viele hier als Saisonarbeiter auf den Feldern. Winters gibt es kaum Arbeit, seit vor gut zehn Jahren die Textilfabirk zugesperrt hat. Die Menschen im Landkreis Satu Mare haben die geringste Lebenserwartung Rumäniens: mit 71 sterben sie laut Statistik, der Landesschnitt liegt gut dreieinhalb Jahre darüber.

Gisellas Familie lebt derzeit nur von Kindergeld, das monatlich für alle neun Kinder zusammen umgerechnet 90 Euro beträgt. In den Westen zum Betteln fahre von der Siedlung aber kaum noch wer, sagt Gisella. Eher versuche man, in der Slowakei Arbeit zu finden. Seit sich mehrere Familien einer Sekte angeschlossen haben, die Alkohol verbietet, habe sich auch das Problem des Alkoholismus in der Siedlung verringert, erzählt eine Caritas-Mitarbeiterin.

Vierteljahrhundert Integrationsarbeit

Schon fast ein Vierteljahrundert unterstützt die Hilfsorganisation hier die Bedürftigen – das sind vor allem alte Menschen und Kinder. Im Landkreis Satu Mare hat die Caritas ihre ersten Integrationsprojekte in Rumänien gestartet. Probleme zwischen Ethnien gebe es kaum, sagt Tünde Löchli, Caritas-Leiterin von Satu Mare. Kinder jeglicher Herkunft besuchen in Ardud gemeinsam das Integretto – ein Zentrum mit Kindergarten und Nachmittagsbetreuung mit ausreichend Platz für Spiele, Licht für Hausübungen und täglich einer warmen Mahlzeit.

Für Projekte wie diese sammelt die Caritas Österreich nun in ihrer Kinderkampagne Spenden. Schon drei Euro am Tag helfen, ein Kind durchzubringen. Auf Hilfsgelder ist man in Ardud stark angewiesen: Öffentliche Zuschüsse machten für die Organisation im Landkreis Satu Mare im Jahr 2013 nur neun Prozent der Einnahmen aus. Für 2014 wurden bei Bund und Land insgesamt 440.000 Euro für die Betreuung von 1.513 Personen – Kindern, Menschen mit Behinderung und Alten – beantragt. Der Staat sagte 147.000 Euro zu, die lokalen Behörden 15.800 Euro.

Trotzdem spielen in Ardud auch Geschichten wie diese: Melinda und Ilona Kardos, 26 und 28 Jahre jung, aufgewachsen in der Roma-Siedlung, absolvierten beide ein Universitätsstudium. Die Eltern gingen nach Ungarn, um die Ausbildung finanzieren zu können. Der Durchschnittslohn in Rumänien liegt bei 355 Euro – das Leben kostet aber nicht so viel weniger als in Österreich.

Erforschen der Mentalität

Im Rahmen ihrer Diplomarbeit erforschte Melinda Kardos, wie man die Mentalität der Roma verändern und jugendliche Roma dazu bringen kann, zielorientiert zu arbeiten. Bei ihrer Umfrage in der Siedlung erfuhr die Wissenschafterin, dass den meisten Roma – anders als ihren Eltern – Weiterbildung nicht wichtig ist. "Weil sie die Vorteile nicht sehen“, sagt Kardos. "Wenn die Kinder studieren, ist das für die Eltern eine große finanzielle Belastung.“

Kardos erinnert sich, wie ihr andere Roma vorwarfen, wenn sie dünklere Haut hätte, wäre sie auf ihrem Weg gescheitert. Man sehe ihr das Roma-Sein eben nicht an. Und sie erzählt davon, wie sie eine Mutter dazu bringen wollte, ihre Tochter länger zur Schule gehen zu lassen. Die Mutter habe gedacht, ihr Kind werde "bestenfalls“ in einer Möbelfabrik unterkommen – doch als sie sah, wie engagiert ihr Mädchen im Integretto freiwillig mitarbeitet, habe sie umgedacht. Jene Tochter ist Gerhild.

Geld reicht nicht für Fahrtkosten

Ihre Eltern verdienen insgesamt 400 Euro im Monat. Für die täglichen Fahrtkosten zur Schule in die Stadt kommt die Caritas auf. Mutter Margaret hofft zwar, dass das Mädchen es bis an die Universität schafft. Sie weiß aber, dass die Familie sich das eigentlich nicht leisten kann. Finanzielle Untersützung vom Staat kann sie nicht erwarten: Rumänien zählt zu jenen Ländern Europas, die am wenigsten für den sozialen Sektor ausgeben.

Psychologin Kardos meint inzwischen zu wissen, wie Ardud vorwärts kommen kann: "„Der Schlüssel ist, zu erfahren, was die Jugendlichen am meisten wollen“, sagt die. Inzwischen sei man so weit, dass Jugendliche von ihren Wünschen sprechen können, unabhängig davon, was Eltern oder Lehrer sagen. Manche wollen Musiklehrer werden, andere Friseurin. Gerhild liebt Englisch. Noch traut sie sich nicht, ihr Können einer größeren Gruppe vorzuführen. Doch sie will es lernen. (Gudrun Springer, DER STANDARD, 3.2.2014)