Ein kleinfamiliäres Idyll, das nur in der Erinnerung existiert: Ida Dwinger (li. hinten), Helle Fagralid und Jakob Cedergren in "Sorrow and Joy / Sorg og glæde" (2013) von Nils Malmros.

Foto: IFF Rotterdam

Die 43. Ausgabe des internationalen Filmfestivals ist noch nicht vorbei, aber es gibt schon Pläne für 2015: Nach dem Vorbild von Opernaufführungen oder Sportereignissen soll dann eine Handvoll Festivalpremieren per Live-Feed in ausgewählte Kinosäle in ganz Europa und in private Haushalte übertragen werden, Partizipation bei Publikumsgesprächen per Social Media möglich sein.

Dieses Vorhaben namens IFFR Live! mag ein Weg sein, den Ereignischarakter eines traditionellen Festivals im digitalen Medienverbund zu behaupten (und als PR für späteren Kinoeinsatz zu nutzen). Ob die Besucherzahlen des Vorjahres vor Ort, rund 280.000, gehalten werden konnten, muss sich noch zeigen. Das Filmangebot war heuer jedenfalls reduzierter, die Specials waren auf Europa fokussiert. IFFR Live! erinnert aber auch ein wenig an die sogenannte "Video Library" im Festivalzentrum, wo schon jetzt für Fachbesucher viele der gezeigten Titel als Stream abrufbar sind. Eine zersplitterte Öffentlichkeit, jenseits der Erfahrung von Kino.

In den Sälen - insgesamt 22 werden vom Festival bespielt - teilte man hingegen Begeisterung über Ester Martin Bergsmarks Spielfilm Something Must Break / Nånting måste gå sönder: eine ungewöhnliche, wilde Liebesgeschichte, die die Identitäten der Protagonisten Sebastian und Andreas testet.

Melodramatische Energie

Bergsmark durchsetzt und dynamisiert Milieurealismus mit melodramatischen Energien. Sein Berliner Kollege Julian Radlmaier hingegen stellte mit Ein proletarisches Wintermärchen (als Teil der filmischen "Grand Tour" durch Europa) einen weiteren gewitzten Kommentar auf gegenwärtige (Arbeits-)Verhältnisse vor. Und die US-Amerikanerin Vera Brunner-Sung skizzierte in ihrem Erstling Bella Vista anhand einer fragmentarischen, aber konkret in Missoula, Montana, verorteten Erzählung vielfältige Migrationserfahrung.

Ein bleibender Eindruck der Edition 2014 ist nicht zuletzt das Special für Nils Malmros, geboren 1944 in Arhus, wo er seit den späten 1960er-Jahren viele seiner Filme dreht, in seiner Heimat Dänemark ein vielfach ausgezeichneter Auteur. Malmros untersucht menschliche Beziehungen. Seine Hauptfiguren sind häufig Kinder und Jugendliche, die noch zur Schule gehen.

Die Erzählungen ergeben sich aus den Dynamiken im Klassenverband, den kleinen Ein- und Ausschließungen, die dabei mehr oder weniger offen vor sich gehen: Freundschaften werden geschlossen und verraten, Lieben nicht erwidert. Mitunter begeben sich auch noch Erwachsene - Lehrer, Väter - wider besseres Wissen in Konkurrenz zu ihnen.

Diese Themen und Motive tauchen in Variationen immer wieder auf - ebenso wie Bezüge auf Malmros' eigene Biografie, die schließlich in seinem vorerst letzten Film von 2013, Sorrow and Joy / Sorg og glæde, kulminieren. In zunächst seltsam kühler Weise enthüllt dieser ein schwer zu begreifendes Ereignis - eine Frau hat ihre neun Monate alte Tochter getötet -, um dann ganz langsam, gemessenen Schrittes und denkbar unvoreingenommen die Vorgeschichte dieser Tat und ihre Auswirkung auszubreiten.

Malmros war zwar auf Festivals vertreten, beispielsweise im Wettbewerb der Berlinale, erstmals 1984 mit Beauty and the Beast / Skønheden og udyret. In den Verleih kamen seine Filme auswärts aber kaum. So ist der Regisseur international weitgehend unbekannt geblieben. Vom internationalen Aufschwung fürs dänische Kino, den die (jüngere) Dogma-Generation initiierte, hat er nicht profitiert. Für solche Entdeckungen ist das Festival Rotterdam gut. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 1./2.2.2014)