Helga Nowotny: Ich plädiere für eine positivere Einstellung zur Ungewissheit, man sollte lernen, mit ihr umzugehen.

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Standard: Ich möchte gern über Neugier, Wissenschaft und die Zeit mit Ihnen reden. Wie viel Zeit haben Sie denn?

Nowotny: Im Augenblick mehr als früher. Jetzt? Für Sie? Genug.

Standard: Ich frage, weil Sie sich wissenschaftlich mit der Zeit beschäftigen. Sie sind 76, Ihre Präsidentschaft beim Europäischen Forschungsrat ERC ging Ende 2013 zu Ende. Jetzt beraten Sie den neuen Wissenschaftsminister in Sachen europäischer Forschung. Ruhestand lehnen Sie ab?

Nowotny: Ruhestand kenne ich wirklich nicht. Ich habe zudem gerade einen Vertrag für ein Buch unterschrieben, das Manuskript muss bis Dezember fertig sein. Es hat die Ungewissheit zum Thema.

Standard: Klingt philosophisch ...

Nowotny: Nur am Rande, ich bin ja keine Philosophin. Ich plädiere für eine positivere Einstellung zur Ungewissheit, man sollte lernen, mit ihr umzugehen. Viele Menschen haben einfach Angst vor dem, was sie nicht kennen. Ungewissheit ist aber Teil von Innovation und auch für die Grundlagenforschung sehr wichtig.

Standard: Weil man nie weiß, was beim Forschen herauskommt ...

Nowotny: Genau. Es geht darum, den Möglichkeitsraum zu erforschen.

Standard: Wie müssen Menschen, Gesellschaften sein, damit sie Ungewissheit ertragen können?

Nowotny: Wir müssen uns von dieser Planungsfixiertheit lösen und vom Glauben, dass alles plan-, machbar und vorauszusagen ist. Über all die Studien, die sagen, was 2030, 2040 passiert, über die kann ich nur lächeln. Natürlich können wir anhand der Vergangenheit Extrapolationen für die Zukunft anstellen, aber was wir vorhersehen können, ist bestenfalls ein Zeitraum von zehn, fünfzehn Jahren. Alles andere ist sehr, sehr grau.

Standard: Mit der These machen Sie sich nicht viele Freunde.

Nowotny: Das ist mir völlig egal.

Standard: Warum stört Sie selbst die Ungewissheit nicht?

Nowotny: Weil sie zum Leben dazugehört, das habe ich immer schon so gesehen.

Standard: Stimmt es eigentlich, dass Sie schon als Kind Wissenschafterin werden wollten? Angeblich sind Sie draufgekommen, als Sie nach dem Krieg von Wien nach Vorarlberg verschickt wurden.

Nowotny: (lacht) Ich bin dort als verhungertes Wienerkind hingeschickt worden, und landete bei der Rauchfangkehrerfamilie von Götzis. Man hat da als Kind so seine Phantasien, meine war, ich wollte in eine Familie, in der sich alles um mich dreht. Ich kam dann in eine Familie mit sechs Kindern. Und es war wunderbar; wir haben heute noch Kontakt. Ich blieb ein ganzes Volksschuljahr lang. Die Frauen in der Familie hatten so viel zu tun, denn sie mussten mittags für alle kochen, für die Gesellen und Lehrlinge und die Familie - und am Abend in der Waschküche die riesigen Kessel heizen, damit sich die Rauchfangkehrer alle schrubben konnten. Ich habe dort sofort offen kundgetan: Ich will keine Hausfrau werden. Ich wusste: Ich will lernen und lehren.

Standard: Ihr Buch über die Zeit  heißt "Eigenzeit". Warum?

Nowotny: Mit den Titeln ist das so eine Sache. Die fallen einem plötzlich ein.

Standard: Mir fallen sie oft plötzlich nicht ein.

Nowotny: lacht

Standard: Was hat Sie am Thema Zeit denn so fasziniert? Dass sie so schnell vergeht?

Nowotny: Ja, ich hatte damals enorm viel zu tun, war Abteilungsleiterin am IHS, hatte mein Kind, private Turbulenzen – es war mir fast zu viel. (lacht) Fast. Und dann bekam ich plötzlich dieses Stipendium für Cambridge, und ich hatte Zeit, ein Jahr. Da habe ich überlegt, wie das kommt, dass manche Menschen so viel, und manche Menschen so wenig Zeit haben. So kam ich in dieses Thema hinein.  Ich fuhr damals übrigens auch zu einer Konferenz der Internationalen Gesellschaft zum Studium der Zeit, deren Präsidentin ich später wurde, nach Japan. Mit der Transsibirischen Eisenbahn. Das war damals die billigste Methode, nach Japan zu kommen.

Standard: Ihre eigene Zeit ist aber auch heute noch sehr verplant und durchgetaktet, Sie reisen fast ununterbrochen ...

Nowotny: Stimmt, ist aber auch eine Frage der Einteilung. Ich komme gerade aus Singapur.

Standard: Sicher hatten Sie nur Handgepäck dabei?

Nowotny: Richtig. Ich fliege nur mit Handgepäck.

Standard: Sie wollen sich das Warten am Gepäckband ersparen?

Nowotny: Ja, man verliert dort mindestens eine halbe Stunde, und ich warte nicht gerne.

Standard: Sie haben in Cambridge gelehrt – wie haben Sie das britische Schlangestehen ertragen?

Nowotny: Es hat meine Einstellung zum Warten verschärft.

Standard: In New York hatten Sie dieses Problem einst nicht.

Nowotny: Nein. Dort hatte ich es damals sehr spannend: Es war die Zeit des Vietnamkriegs, der Studentenrevolte, die Universitäten wurden besetzt. Ich habe meine mündliche Prüfung fürs Ph.D. (Doktorat; Anm.) in der Wohnung meines Professors Paul Lazarsfeld abgelegt, weil die Columbia University besetzt war.

Standard: Paul Lazarsfeld hat 1932 in Österreich mit seiner damaligen Frau, Sozialpsychologin Marie Jahoda, die Studie über die Arbeitslosen im Marienthal gemacht. Kannten Sie Jahoda auch?

Nowotny: Ja, eine großartige Frau. Ich  kannte aber auch Lazarsfelds Mutter, Sophie. Sie war Psychologin, eine emanzipierte, hochgebildete Frau und hatte in Wien ein langjähriges Liebesverhältnis mit Friedrich Adler gehabt. Sie lebte dann auch in New York.

Standard: Jahoda musste 1936 nach England flüchten. Österreich hat ihre Verdienste spät gewürdigt, sie erst 1993 nach Wien gebeten.

Nowotny: Stimmt. Ich habe sie damals zum Abendessen eingeladen, und sie hatte nur einen Speisewunsch: Wiener Beuschel.

Standard: Ihre eigene Karriere war steinig. Trotz Ph.D.  wollte Sie in Österreich zunächst niemand habilitieren, Sie mussten Ihre in Bielefeld erworbene  Habilitation ein zweites Mal einreichen. Wären Sie ohne diesen Widerstand auch so weit gekommen?

Nowotny: Österreichs Unis waren damals enorm konservativ, es ging allen Frauen wie mir. Noch dazu kam ich ja von außen. Und ja, Widerstand spornt mich an.

Standard: Vor Soziologie haben Sie Jus studiert und Ihr Gerichtsjahr am Wiener Jugendgerichtshof begonnen. Die Umstände dort haben Sie sehr abgestoßen. Warum?

Nowotny: Ich hatte zwei Chefs am Jugendgerichtshof. Der eine kam um halb acht, brachte seine Wurstsemmel mit und ging am Abend heim. Der andere kam um halb zehn, hat mich dann manchmal zum Kaffee im Prater eingeladen und war um ein Uhr weg. Da dachte ich, irgendetwas kann an diesem Ort nicht stimmen. Das Erschütterndste aber waren die Mütter, die sich über das Schicksal ihrer Kinder ausweinten. Ich wusste, welche Behandlung ihnen am Gericht bevorsteht, musste mir das ganze Elend anhören und konnte nichts für sie machen. Die Gutachten, die Semantik – ich konnte das nicht ertragen.

Standard: Spiegelte noch das Gedankengut der Nazis wider ...

Nowotny: Absolut. Die Gerichtsmedizin, die Gerichtspsychologie, kam alles aus der Nazizeit. Ich wusste, das ist kein Ort für mich.

Standard: Sie wurden dann jedenfalls noch Assistentin am Institut für Kriminologie.

Nowotny: Dort habe ich sehr viel gelernt, ich bekam tiefe Einblicke in die Kriminalität. Aber mein Professor, den ich überredet hatte, mich, eine Frau, als Assistentin zu nehmen, sollte Recht behalten: Ich habe geheiratet und ging nach New York. (lacht)

Standard: Sind die Hürden für Frauen in der Wissenschaft inzwischen beiseite geräumt?

Nowotny: Es ist besser geworden, aber Hürden sind nach wie vor da. Heute gibt es viel weniger bewusste und direkte, aber immer noch unbewusste Diskriminierung gegen Frauen. Wir haben das im Europäischen Forschungsrat untersucht, es gibt ein Muster: Bei Bewerbungen für Grants (Stipendien; Anm.) wird anfangs generell gesiebt, erst bei der Entscheidung, wer zum Interview eingeladen wird, gabelt sich der Weg. In der Physik und den Sozial- und Geisteswissenschaften haben Frauen, die es so weit geschafft haben, bessere Chancen weiterzukommen, in den Lebenswissenschaften Männer. Wir haben keine Idee, warum. Offenbar läuft im Gehirn der Entscheidenden unbewusst eine Maschinerie ab: "Es geht um eine Frau, der trauen wir nicht zu viel zu."

Standard: Wird sich das ändern? Was sagt die "optimistische Realistin", als die Sie sich sehen?

Nowotny: Das wird noch dauern. Die Wissenschaft ist nicht von der Gesellschaft abgetrennt. Wenn mich eine junge Frau fragt: Soll ich in der Wissenschaft bleiben ...

Standard: ... sagen Sie: „Such dir den richtigen Partner."

Nowotny: Genau. Ohne unterstützenden Partner geht da gar nichts.

Standard:Sie sagen, Österreichs Wissenschaft und Forschung stehen gut da. Gilt das trotz Eingliederung des Wissenschaftsressorts ins Wirtschaftsministerium?

Nowotny: Die Symbolik ist zunächst nicht gut. Es kommt aber darauf an, wie viel Geld der neue Minister den unterfinanzierten Universitäten geben kann, und der Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung braucht sicher zusätzliche Mittel. Wenn da nichts kommt, werden die jungen Leute abwandern.

Standard: Die "Financial Times" hat Sie 2011 zu einer der einflussreichsten Frauen in Forschung und Wissenschaft gekürt, neben IBM- und Facebook-Chefin. Stolz?

Nowotny: Es freut mich. Denn der ERC hätte auch schiefgehen können, seine Erfolgsgeschichte war in keiner Weise vorbestimmt ...

Standard: Ungewiss eben ...

Nowotny: Genau. Uns ist da etwas in Europa Einmaliges gelungen.

Standard: Eine Genugtuung für die Strapazen zu Beginn Ihrer Karriere in Österreich?

Nowotny: Genugtuung? Nein, das ist nicht meine Art. Wenn ich die glatten Karrieren meiner männlichen Kollegen mit meiner vergleiche, bin ich dankbar für meine Umwege und Brüche. Ich hatte einfach das interessantere Leben.

Standard: In Brüssel haben Sie den Europäischen Forschungsrat als eine Art gallisches Dorf innerhalb der EU-Bürokratie erhalten: Die Auswahl der Mittelvergabe erfolgt ausschließlich über Wissenschafter. Sie gelten als bestens vernetzt, lösungsorientiert, als eine, die unterschiedlichste Leute zum Kooperieren bringt. Hat Sie die Politik nie gereizt?

Nowotny: Nein. Ich habe einen biologischen Defekt, der mich für die Politik völlig ungeeignet macht: Ich brauche acht Stunden Schlaf, mindestens sechs Stunden. Politiker schlafen weniger. Aber die Frage hat sich sowieso nie gestellt.

Standard: Sehen Sie schon eine europäische Forschung und Wissenschaft?

Nowotny: Ach, vom europäischen Forschungsraum sind wir noch ziemlich weit entfernt. Die Renationalisierung, die derzeit in der EU auch aus ökonomischen Gründen herrscht, die Schwierigkeiten bei der Mobilität von Forschern wegen des nicht vereinheitlichten Sozialversicherungssystems macht Fortschritte in Richtung eines europäischen Forschungsraums derzeit schwierig.

Standard: Sie halten Österreichs Unis für unterfinanziert. Sind Sie eigentlich für Studiengebühren?

Nowotny: Es ist eine Illusion zu glauben, dass Studiengebühren Universitäten finanzieren können, das funktioniert nicht einmal in den USA. Aber die österreichische Kombination – kein vernünftiges, beiderseitiges Auswahlverfahren und keine Studiengebühren – ist fatal. Wobei meine Priorität auf den Auswahlkriterien liegt: Ein Studierender soll wissen, was ihn erwartet und was die Universität von ihm erwartet. Das wäre ehrlich, eine Art Produktwahrheit. Beim Teesackerl wissen Sie ja auch, was drin ist. Und natürlich gilt auch die alte Weisheit: Was nichts kostet, ist nichts wert.

Standard: Sie haben bis zu Ihrer Emeritierung an der ETH Zürich gelehrt. Bei Erreichen der Altersgrenze, mit 65 Jahren, mussten Sie gehen. Eine Kränkung?

Nowotny: Nein. Ich wusste ja immer, wann es zu Ende geht und habe Zürich sehr genossen.

Standard: Was besonders?

Nowotny: Das Schwimmen im See (lacht), die internationale Forschungsatmosphäre an der ETH.  Die Lebensqualität in Zürich ist überhaupt sehr hoch ...

Standard: ...und das Leben teuer.

Nowotny: Ja, aber die ETH-Gehälter sind wirklich sehr gut.

Standard: Erfrischend, dass Sie das sagen. Die meisten meiner Gesprächspartner reden ihr Einkommen klein. Was zahlt die ETH?

Nowotny: Damals 220.000 Franken im Jahr (nach heutigem Kurs: 180.000 Euro; Anm.) – und alle Professoren verdienen gleich viel.

Standard: Das Schweizer Zeitmanagement lag Ihnen auch, oder?

Nowotny: Ja, an der ETH wird bei jeder Sitzung vorher fixiert, wie lange sie dauert. Ganz selten geht sich ein Traktandum, wie das dort heißt, nicht aus. Dann hört man trotzdem pünktlich auf und vereinbart einen neuen Termin. Das ist die Schweizer Effizienz.

Standard: Pünktlich wie eine Schweizer Uhr.

Nowotny: Wissen Sie, wie die Schweizer Uhrenindustrie entstand? Sie geht aufs Calvinistische Verbot der Juwelen- und Schmuckerzeugung in Genf zurück. Calvin hielt diese Eitelkeit der Frauen, Schmuck und Tand für überflüssig und verbot das. Somit hatten die Schmuckerzeuger ein Problem. Sie kamen dann auf die Idee, kleine Uhren zu machen.

Standard: Ist Neugier eigentlich die wichtigste Eigenschaft für Forscher?

Nowotny: Neugier und Beharrlichkeit: Ein Forscher darf nie aufgeben.

Standard: Neugier, sagen Sie, ist amoralisch. Sie ist auch nicht beherrschbar oder kontrollierbar, darum kommt die Wissenschaft ja oft in Konflikt mit der Gesellschaft.

Nowotny: Ja, aber keine Gesellschaft kann ihren Wissenschaftern oder sonst einer Gruppe erlauben, ihre Neugier ohne Kontrolle und Grenzen auszuleben. Insofern wird Neugier gesellschaftlich gezähmt. Wie man sie zähmt, wer sie zähmt und in welchem Ausmaß – das sind gesellschaftspolitische Fragen. Die libido scientia, die unkontrollierte Liebe zum Wissen, war in der Kirche lange verpönt.

Standard: So gesehen sind Forscher Aufklärer.

Nowotny: Sicher sind Forscher Aufklärer. Ich bin auch eine Aufklärerin.

Standard: Beschäftigen Sie sich denn auch mit der Endlichkeit?

Nowotny: Nicht sehr. Unser Leben ist endlich, das wissen wir. Und die Unendlichkeit können wir nicht begreifen.

Standard: Worum geht's im Leben?

Nowotny: Das Leben ist ein Geschenk. Es kommt darauf an, möglichst viel daraus zu machen und das mit anderen zu teilen.