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"Es ging alles viel zu schnell. Wir wurden überrumpelt." Pläne für den neuen, 70 Hektar großen Aufmarschplatz in Yenikapi.

Visualisierung: Stadtverwaltung Istanbul

Stadtforscher Orhan Esen: "Der öffentliche Raum als politischer Raum wird einfach abgeschafft."

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Vor einem Jahr, im Februar 2013, veröffentlichte der Stadtforscher und Aktivist Orhan Esen den Artikel "Taksim 5. November, die Codes eines Putsches". An jenem 5. November 2012 hatten über Nacht die Bauarbeiten am Umbau des größten und wichtigsten öffentlichen Platzes in Istanbul begonnen, mit der von Premierminister Erdogan forcierten Rekonstruktion einer ottomanischen Kaserne im heutigen Gezi-Park. Was danach passierte, ist bekannt.

Inzwischen wurde der Kasernen-Neubau per Gericht vorerst gestoppt. Gleichzeitig begann im Herbst das nächste Großprojekt, wieder beinahe über Nacht: Rund 70 Hektar Land werden in Yenikapi, am Ufer der Altstadt, im Marmarameer aufgeschüttet. Zwar wurde 2010 ein internationaler Wettbewerb für das Areal ausgeschrieben, den Peter Eisenman gewann, doch die Pläne verschwanden in der Schublade. Stattdessen entsteht nun ein gigantischer, auf den Visualisierungen totalitär anmutender Aufmarschplatz für rund eine Million Menschen. Orhan Esen erklärt im Gespräch mit dem STANDARD, welchen Interessen der öffentliche Raum in der Türkei ausgesetzt ist.

STANDARD: Sie haben sich schon vor der Besetzung des Gezi-Parks für stadtplanerische Belange um den Taksim-Platz eingesetzt. Worum ging es Ihnen dabei genau?

Esen: Taksim ist das unumstrittene Zentrum Istanbuls. Ein junger Ort, auf den symbolisch alles hineinprojiziert wird, ein richtiger Zankapfel. Es ging uns dabei um mehrere Aspekte: um das eigentliche Kasernenareal, um den Straßentunnel, um den Platz vor der Oper sowie um den Gezi-Park. Noch dazu werden in den angrenzenden Vierteln viele der großartigen Häuser aus den Dreißigerjahren abgerissen und durch billig gemachte postmoderne Bauten ersetzt. All das hätte man öffentlich diskutieren sollen. Das ist nicht passiert. Das Projekt enthielt nur Top-down-Entscheidungen.

STANDARD: Der Umbau gilt als Lieblingsprojekt des Premierministers. Warum plant hier der Staat die Stadt?

Esen: Der Bürgermeister, die lokalen Planungsinstanzen sind völlig von der Bildoberfläche verschwunden. Dafür ist Premierminister Erdogan relativ aggressiv vor die Medien getreten. Von der Kaserne sind nie detaillierte Pläne veröffentlicht worden. Nachdem wir dann endlich 130.000 Stimmen dagegen gesammelt hatten, hat das Denkmalschutzamt bekanntgegeben, dass ein Wiederaufbau dieser Kaserne nicht zulässig ist. Das Original stammt aus dem 18. Jahrhundert und wurde nie aufgemessen. Der Neubau der Kaserne ist also historisch in keiner Weise korrekt, sondern reine Fantasiearchitektur.

STANDARD: Es erinnert an die Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses.

Esen: Die gleiche Konstellation, die ähnlichen Argumente! Aber in Berlin waren sie cleverer und haben die Sache zehn Jahre lang auf Eis gelegt, bis die Opposition eingeschlafen ist, und dann stillschweigend angefangen. Hier wollten sie es in einem Jahr durchziehen. Auch das Kulturzentrum am Taksim, eine Ikone der Nachkriegszeit, wollte man abreißen, genau wie den Palast der Republik in Berlin. Was mit diesem Bau geschehen soll, wird seit 1999 diskutiert. Er steht unter Denkmalschutz, aber heute weiß niemand mehr, was Denkmalschutz bedeutet. Das Gesetz steht auf so schwachen Beinen, dass man fast den Topkapi-Palast abreißen könnte. Es richtet sich ein gewisser Hass Erdogans gegen alles Moderne.

STANDARD: Warum wird die moderne Architektur so emotionalisiert?

Esen: Weil sie einen ideologischen Hintergrund hat. Die kemalistische Republik wollte sich von der angeblich rückständigen Geschichte loslösen. Dass es auch im 18. und 19. Jahrhundert Modernisierungsbestrebungen gab, wurde dabei völlig unter den Tisch gekehrt. Man wollte den Begriff der Moderne ganz für sich allein beanspruchen. Die postislamistische Bewegung von Erdogans AKP dagegen will eine geschichtliche Kontinuität herstellen. Das ist an sich nichts Schlechtes. Aber es gerät zur Persiflage, wenn man die Eklektizismen des 19. Jahrhunderts schlecht und kommerziell nachbaut. Das ist eine provinzielle Reaktion auf alles Urbane. So ist ein falscher Kulturkrieg entstanden, in dem beide Seiten auf verkehrten Positionen stehen.

STANDARD: Wie äußert sich dieser Kulturkampf beim Taksim-Projekt?

Esen: Es geht um die Nutzung des öffentlichen Raumes. Im November 2012 wurde der Platz mit großem Polizeieinsatz eingezäunt, 150 Bäume wurden abgeholzt, Straßentunnels wurden errichtet. Wir haben von Anfang an alle Aspekte der Planung kritisiert, auch die politische Dimension der Straßenplanung.

STANDARD: Welche Dimension ist das?

Esen: Das Straßenprojekt verhindert, dass große Mengen zu Demonstrationen auf den Platz kommen, weil die Straßen jetzt voller Tunneleinfahrten sind. Das ist eine Militärarchitektur wie die von Haussmann im Paris des 19. Jahrhunderts. Aber als es darum ging, dagegen zu protestieren, zögerten die Leute. Da ist man sehr technokratengläubig. Mit dem Protest gegen den Bau der Kaserne und die Abholzung der Bäume konnten sich Leute leichter identifizieren.

STANDARD: Warum halten Sie das Thema Auto für so elementar?

Esen: Es ist ein amerikanisches Stadtmodell. Istanbul und Ankara sind in der Antike gewachsen, im Mittelalter, in der Gründerzeit. Es sind Urbeispiele der europäischen Stadt. Die kann man nicht mit dem Modell Miami oder Dubai überbauen. Der Witz ist, dass offiziell mit der Fußgängerfreundlichkeit von Taksim geworben wird. Dabei werden im ganzen Viertel massiv Parkplätze gebaut. Das Zentrum wird durch das Auto erobert. Man ist nur dort Fußgänger, wo man sich vermarkten kann. Der öffentliche Raum als politischer Raum wird abgeschafft.

STANDARD: Wer nutzt den Taksim als politische Bühne?

Esen: Jeden Freitag und Samstag gibt es Flashmobs am Laufband - von politischer Demonstration bis zur Kunstperformance. Feministen, Kurden, Arbeiter, Studenten. Das ist seit 20 Jahren so, eine richtige Istanbuler Tradition. Zehn Leute, die verkleidet sind, und sich etwas Cleveres ausgedacht haben. Am Taksim stehen heute rund um die Uhr Polizei, Krankenwagen und Fernsehübertragungswagen - weil immer etwas passiert. Man nimmt es auf, und die Leute wissen genau, dass sie in den Primetime-Nachrichten maximal 38 Sekunden Zeit haben. Darauf stimmen sie ihre Performance und ihre Botschaft ab. Ansonsten landen die Videos sofort auf Facebook.

STANDARD: Wie ist die Situation heute?

Esen: Sie hat sich verschärft. Der Taksim ist heute ein sehr dionysischer Ort, an dem eine internationale globale Jugend auf der Straße feiert. Seit den Protesten vor einem Jahr wird von Regierungsseite ganz konsequent auf jede Art politischer und künstlerischer Demonstration reagiert.

STANDARD: Stattdessen entsteht zurzeit ein 70 Hektar großer, neu aufgeschütteter Platz am Marmarameer.

Esen: Eine Bevölkerung, die diesen riesigen Platz füllt, kann nur die AKP mobilisieren. Dazu braucht man 50.000 Leute, und dort wird man nur gesehen, wenn es die Mainstream-Medien übertragen. Im Taksim wird es durch die Anwesenden getragen. In Yenikapi gibt es nur Möwen.

STANDARD: Welche Planungsgeschichte hat dieser neue Taksim?

Esen: Gar keine! Die Pläne wurden erst bekannt, als das Gelände schon halb aufgeschüttet war. So viel Fläche, wie Amsterdam in zehn Jahren aufgefüllt hat, wurde hier in nur zwei Monaten aufgefüllt. Es wurde nie diskutiert, nie geplant, einfach nur gemacht.

STANDARD:  Gibt es dagegen Proteste der Architekten?

Esen: Es ging alles zu schnell, wir wurden überrumpelt. Während am Taksim Proteste liefen, wurde das Land aufgefüllt. Es fügt sich zu einem Bild zusammen, welchen Begriff vom öffentlichen Raum man hat: nur mit Auto zu erreichen, kommerzialisiert, amerikanisiert.

STANDARD: Wie geht es am Taksim weiter? Ist die Kaserne nach dem Gerichtsbeschluss gestorben?

Esen: Das kommt auf die nächsten Wahlen an. Erdogan macht im Moment eine extreme Konfrontationspolitik. Wenn er bei den Wahlen Erfolg hat, wird das als Legitimierung für sein Projekt gesehen werden. (DER STANDARD, 1.2.2014)