Irgendwann musste er ja doch kommen, der Winter. Und auch wenn wir wissen, dass das Laufen bei Minusgraden kein Ding der Unmöglichkeit ist, müssen wir uns dann doch beim ersten Mal wieder selbst überzeugen. Oder denen, die es nicht schaffen, wieder einmal eine niederschwellige Alternative bei Zimmertemperatur anbieten

"Minus 9", sagten die Radionachrichten. "Minus 7" das Thermometer an der Fensterscheibe. Aber: Ist das ein Grund, am Sofa picken zu bleiben? Falls Sie jetzt laut und deutlich "Ja" denken, müssen Sie mit wenig Widerspruch rechnen. Und zwar auch nicht von mir und meinen Mitläuferinnen und Mitläufern. Denn ob jeder von uns Sonntagfrüh wirklich losgelaufen wäre, wenn da nicht die anderen ...

Aber andererseits hatte die Radionachrichtenstimme nicht nur "minus 9" gesagt, sondern auch "sonnig". Und die Sonne hatten wir schon zu lange nicht gesehen. 

Foto: Thomas Rottenberg

Außerdem: Ende Jänner ist schon mitten in der Vorbereitungssaison. Für den 1.001. Bewerb: Wir wollen es heuer "locker" angehen - aber allein die Liste der Spaßläufe, Mehrdisziplinenstaffeln, Kurz- und Mittelstreckenläufe, die da in der Gruppe kommuniziert wurde, wäre Grund genug, an der Grundlagenausdauer zu arbeiten. Ganz abgesehen von den geplanten Halb- und Ganzmarathonstrecken. Und dann ist Ausdauertraining ja auch noch das Fundament, auf das man die Skills für so ziemlich alles andere draufstellt. Aber vor allem: Ja, es macht Spaß. Und: Ja, da gibt es auch das Drageekeksi-Syndrom.

Foto: Thomas Rottenberg

Darüber hinaus gilt beim Laufen wie bei fast jeder Form von Bewegung die große Motorrad-Plattitüde. Nämlich die, dass es kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte, ergo falsche Ausrüstung gibt. Bei minus 9 Grad (oder -8 oder -7 oder +2 Grad, denn Kälte ist ganz subjektiv) gilt in der Regel, was auch bei Skitouren gilt: Wenn es am Anfang ein bisserl fröstelt, passt es dann in Summe meistens. Mütze und Handschuhe sind Pflicht, mehrere dünne Schichten besser als wenige dicke - weil es unterwegs dann nämlich doch oft richtig warm wird. Ein bisserl Umschichtpotenzial ist da nie falsch.

Foto: Thomas Rottenberg

Während sich die Damen für Skiunterwäsche unter "regulären" Laufhosen entschieden, nahm ich eine leicht gefütterte. Es gibt keine Patentrezepte, sondern nur Erfahrungswerte. Der Rucksack war nur das Backup: Wir hatten keine lange Strecke geplant - aber mit einem Notfall-Thermoshirt und Tee für wen auch immer unterwegs fühle ich mich sicherer. Bei minus 9 Grad ist ein Verknackser auch mit einem nur fünfminütigen "Spaziergang" zur nächsten U-Bahn nicht lustig, sondern gesundheitsgefährdend saukalt.

Das Buff? Erstens ein Sponsorgeschenk vom Hersteller. Aber vor allem ein Gag: Sturmhauben trage ich höchstens bei Sturm. Aber ich wollte immer schon einmal aussehen wie Harry Tuttle, mein Held aus "Brazil".

Foto: Thomas Rottenberg

Was beim Laufen bei Kälte aber tatsächlich nicht sehr gut funktioniert: in der Gruppe unterwegs sein - und immer wieder stehen bleiben, um aufeinander zu warten. Wer einmal steht und spürt, wie das eben doch feuchte Zeug am Körper kalt wird, hat kaum mehr eine Chance, wieder warm zu werden. Da heißt es entweder Leiberlwechsel oder Abbruch und ab in die Wärme.   

Foto: Thomas Rottenberg

Dass es diesmal eine reine Damen- und eine Herrengruppe wurde, hatte nichts mit der tatsächlichen Leistungsfähigkeit der einzelnen Akteure und Akteurinnen zu tun - sondern schlicht und einfach mit Trainingsplänen, Tagesverfassung - und der Lust auf langes oder kurzes Training.

Foto: Thomas Rottenberg

Mit das Feine am Rudellaufen ist das Danach. Das Abhängen beim gemeinsamen Brunch. Also liefen die Damen einmal rund um den Ring, während wir uns ein bisserl weiter hinaus wagten. Und uns verrechneten: Ring-Augarten-Praterstraße-Urania-City würde sich zeitlich nicht ganz ausgehen - aber den Karmelitermarkt hatten wir ohnehin noch nie belaufen.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich wäre am Stephansplatz aus Gewohnheit auf den Graben abgebogen, aber Christoph lief einfach geradeaus weiter: Auf der Kärntnerstraße war exakt so wenig los, wie Wirtschaftskammer & Co in ihren Katastrophenszenarien als Tod der Mariahilfer Straße prognostizieren - und auch wenn mir die diversen Stadtmöbelideen für die MaHü bisher ziemlich egal waren: Ich glaube, ich könnte mich damit anfreunden.    

Foto: Florian Albert/www.floalbert.net

Je näher wir zur Oper kamen, umso dichter wurde das Trachtentreiben. Vor der Oper war dann Schützenauflauf, die Damen und Herren aber unbewaffnet: Am Abend zuvor war "Tirolerball" gewesen. Aber ob sie jetzt schon oder noch unterwegs waren, wollten sie partout nicht verraten.

Stattdessen waren sie besorgt: Ob uns nicht zu kalt sei, im Freien Sport zu machen. Ganz ehrlich? Die Tiroler sind nicht mehr das, was sie mal waren. Beim heiligen Herz Jesu.

Foto: Florian Albert/www.floalbert.net

Nur: Das auszudiskutieren hätte dazu geführt, dass die Bedenken der Herren und Damen aus den Bergen sich wohl bewahrheitet hätten. Außerdem gab Christoph plötzlich ein Tempo vor, das sich mit Plaudern nicht mehr vertrug - und im Burggarten legte er dann auch noch ein paar Treppensprints ein. Nach so vielen grauen Tagen beflügelten Sonne und blauer Himmel eben - und für den Nachmittag war ohnehin schon Schnee angesagt. 

Foto: Thomas Rottenberg

Tatsächlich hatten wir da wohl das perfekte Fenster erwischt - und waren perfekt gewappnet: Als die ersten Fotos gleich nach dem Lauf auf Facebook standen, landeten - fast - klagende Reaktionen in unseren Timelines: "Ich war heute auch im Augarten und bin dort fünf Runden gelaufen - aber die Sonne war schon weg", seufzte einer. Aber die Mehrheit tippte sich an die virtuelle Stirn: "VieI zu kalt!"

Foto: Florian Albert/www.floalbert.net

Ganz abgesehen davon, dass man es probiert haben sollte, bevor man "zu kalt" sagt, sind Wetter und Kälte keine geeigneten Ausreden, einfach gar nix zu tun.

Auch wenn ich meine Mitgliedschaft im großen Fitnesscenter "Da Draußen" nicht mehr rückgängig machen will, lockt es mich hin und wieder zu Indoor-Trainings. Oder: PR-Leute locken mich: "Zeig doch wieder mal was Niederschwelliges. Etwas für Einsteiger", stand im Begleittext zur Einladung, mich zu elektrifizieren. Oder zu elektrisieren.

Foto: Thomas Rottenberg

"Body Streetnennt sich, was ich mir anschauen sollte. "Du bist nicht Zielgruppe", erklärte mir Matthias Lehner beim Einstiegsgeplaudere. Lange bevor mir seine Mitarbeiter das an eine Splitterweste erinnernde Korsett mit Elektroden anlegten: Lehner hat mit seinem "Elektromuskelstimulationstraining" 2007 eines der heute erfolgreichsten Franchisekonzepte des deutschsprachigen Raumes entwickelt. Heute verweist er auf 170 Standorte und 25.000 Kunden. Das ist nicht nix - und kommt auch nicht einfach so.

Foto: Thomas Rottenberg

Lehner und seine Frau Emma waren einst beide Leistungssportler. Danach gründeten sie in München ein Fitnesscenter - und waren über das, was viele Mitbewerber jubeln lässt, tatsächlich todunglücklich: Trimmbuden leben - auch - von den Karteileichen. Also Menschen, die brav zahlen - aber kaum je kommen. Weil morgen ja auch noch ein Tag ist. Und man heute zu wenig Zeit hat. Oder übermorgen.

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Die Lehners hatten die Idee, einfache, kurze Trainingseinheiten dann mit "Elektrostimulation" - also schwachen, pulsierenden Stromstößen, wie sie auch in manchen Therapien angewandt werden - zu kombinieren. Siehe da: es funktionierte nicht nur, sondern "rockte". Und auch wenn ich mir den Vergleich mit den Bauch-weg-Elektrodingern aus dem Shopping-TV nicht verkneifen konnte, gibt es da (abgesehen vom Ganzkörper-Trainingsansatz) einen gewaltigen Unterschied: Um Couchpotatoes zu aktivieren, bedarf es oft des Drucks, der Termine und der individuellen Betreuung (also auch die Nachfrage, wo man denn bleibe) machen.

Foto: Thomas Rottenberg

Und der Dauerauftrag: Wenn man schon dafür zahlt (und der Trainer regelmäßig anruft und drauf hinweist, dass das Abo rund 80 Euro im Monat kostet - auch wenn man nicht kommt), gehen viele Leute dann tatsächlich "zum Sport". Erst recht, wenn die ganze Sache nach 20 Minuten schon wieder vorbei ist - und man sich trotzdem spürt.

Wie es war? Eh ok. Auf jeden Fall interessant. Aber nicht meins: Ich spür lieber die Umgebung, das Wetter, den Boden und den Wind, als kleine Stromschläge bei Bewegungen, die irgendwo zwischen Pilates und isometrischen Übungen daheim sind. 

Aber das wussten Matthias Lehner und ich schon im Vorhinein - und es ist eigentlich egal. Denn: Was wirkt - das gilt. Und das ist bei jedem und jeder anders. Zum Glück. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 29.1.2014)

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