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Moderne Helden- geschichten und Jeans-Stoff: Das Streunen war die Welterfahrung der Aufgebrochenen und das Verabreden deren neuer Zusammenhang.

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Isolde Charim, geboren 1957 in Wien, studierte Philosophie. Sie arbeitet als freie Publizistin. Sie ist "taz"-Kolumnistin sowie wissenschaftliche Kuratorin der Reihe "Diaspora". 2006 erhielt sie den Publizistik-Preis der Stadt Wien. Außerdem: langjährige Lehrätigkeit an der philosophischen Fakultät der Universität Wien, "Erkundungen eines Lebensmodells" sowie "Demokratie reloaded" am Kreisky-Forum. Kürzlich erschienen: "Lebensmodell Diaspora. Über moderne Nomaden" (transcript Verlag).

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Unlängst ging ich ins Kino. Ich mach das ja viel zu selten. Und wenn man da die Routine verliert, prägen sich die Bilder umso fester ein. Es begann mit einer Reihe von jungen Leuten: Ein Mann fährt mit einem Auto vor, sammelt spontan andere junge Leute ein, und sobald das Auto voll ist, sausen sie dahin - hübsche junge Menschen mit wehenden Haaren im Fahrtwind. Ein Roadmovie. Irgendwann kommen sie an, steigen aus, stehen auf einem Felsen, den Blick in die Ferne gerichtet und - nichts. Sie stehen nur hübsch herum in ihren hübschen Jeans, für die das Roadmovie geworben hat. Das war nämlich nur die Werbung davor. Der Film danach war wie ein Kommentar zu dieser Werbung.

Der Film war Inside Llewyn Davis, gedreht von den Coen-Brüdern. Es ist dies die Geschichte eines Folksängers, der in der Prä-Dylan-Ära mehr oder weniger erfolglos durch New York zieht, hin und wieder in legendären Clubs wie dem Gaslight-Café auftritt, ohne eigene Wohnung, bei wechselnden Freunden unterschlüpft. Immer auf der Suche nach dem Durchbruch, eine Suche, die ihn in einem langen Trip bis nach Chicago führt - alles ohne Erfolg. Am Ende liegt er zusammengeschlagen auf dem Asphalt vor jenem Club, in dem gerade Bob Dylan spielt - den man nur im Aufblitzen des Erfolgs eine Sekunde lang sieht. Es bleibt unklar, ob dem Titelheld des Films Ähnliches beschieden sein wird und er noch Erfolg haben wird. Es bleibt offen, aber es ist eher unwahrscheinlich.

Diedrich Diederichsen hat die Lebenswelt der Jugendkultur, die ihren Ausgang in den 60er-Jahren, in ebenjenem New York, in ebenjenem Greenwich Village, bei ebensolchen Figuren wie Llewyn Davis nahm, in drei Worten beschrieben: abhauen - herumstreunen - sich verabreden. "She's leaving home, bye, bye" heißt es bei den Beatles über die Tochter. Abhauen - das meint das Verlassen des Vertrauten, der Aufbruch ohne Ziel (ein Ziel würde nur stören). Das Streunen war die Welterfahrung der Aufgebrochenen und das Verabreden deren neuer Zusammenhang - die neue Gruppe jenseits von Familie und Herkunft.

Diese Jugendkultur der Sixties funktionierte aber nur deshalb in die Breite, weil es einige Ausnahmefiguren gab, die das vorlebten - vornehmlich Künstler. Und unter den Künstlern vornehmlich Musiker, da die Musik ja zum bevorzugten Medium dieser neuen Welterfahrung wurde.

Wenn sich eine Gesellschaft "für einen Menschen begeistert, in dem sie die wesentlichen Sehnsüchte zu entdecken glaubt, die sie selbst bewegen, dann sondert sie ihn aus und vergöttert ihn beinahe", so der Begründer der Soziologie, Émile Durkheim. Solche exemplarischen Individuen leben exemplarische Szenen, die eine Erzählung begründen: eine Erzählung mit Urszenen, die nachgelebt, mit Lebensgefühlen, die nachempfunden werden können. Dazu gehören auch Sehnsuchtsorte, an die man pilgern, Gesten, die man nachvollziehen und Kleidung, die man nachmachen kann. In dieser Hinsicht zehren wir noch heute von den Sixties - wie man etwa an der Hippie-Schiene bei H&M sehen kann oder eben an der erwähnten Jeans-Werbung mit ihrem On-the-road-Feeling.

Inside Llewyn Davis ist kein Kommentar zu dieser Werbung im Sinne einer Konsumkritik. Der Film sagt nicht: Leute, das Lebensgefühl solcher Aufbruchstorys lässt sich nicht durch Dinge einholen, die man kaufen kann wie etwa eine Jeans. Ebenso wenig kommentiert er die Verkehrung, dass nicht mehr die Leute mit ihren Handlungen einen Weltbezug transportieren, sondern eben Waren - etwa indem er das wahre und echte Bohemienleben jenseits seiner Warenförmigkeit darstellen würde.

Nein - der Film kommentiert die Werbung auf ganz andere Art und Weise. Wer in den Film geht, um ein bisschen Bohemeleben zu tanken, ein bisschen Greenwich-Village-Feeling mitzubekommen, der wird völlig enttäuscht. Denn all das kommt überhaupt nicht vor, jedenfalls nicht in seiner positiven Variante. Man sieht nicht die Fülle und Intensität eines Künstlerlebens. Man sieht nur dessen negative Seite - die nämlich, wo es scheitert: die künstlerische Berufung als Erfolglosigkeit, die sexuelle Befreiung als miese Geschichte, wo die Hauptfigur die Freundin eines Freundes schwängert, mit der Abtreibung als einziger Perspektive, den Trip nach Chicago, das Roadmovie als Desaster. Wenn die Süddeutsche Zeitung schreibt, der Film sei "keine Verklärung des Bohemienlebens", dann ist das - gelinde gesagt - untertrieben. In dem Film gibt es keinen Moment von Glück, nichts, wofür sich der Aufbruch lohnen würde, keine positive Intensität, keine Begegnung, keine Freiheitserfahrung. Man sieht nur Llewyns Beharren auf seinem Tun.

Aber erzählt der Film damit nicht genau die moderne Heldengeschichte? Der Held, das ist jener, der sich berufen fühlt. Das ist jener, der an das Authentische, in dem Fall an das Authentische seiner Musik, der generell an das Authentische seines Tuns, seines Lebens glaubt und der allen Widrigkeiten zum Trotz auf sich, auf seiner Berufung beharrt. Und ich frage mich: War nicht genau das das Versprechen der Sixties - jenseits des Kommerziellen liegt das Glück und die Intensität?

Scheitern ohne Erlösung

Aber der Film zeigt: Diese Story wurde immer von ihrem Ende, von ihrem glücklichen Ende her erzählt - vom Erfolg. Es war die Story der Ausnahmefiguren, die Story der Dylans dieser Welt. Der Film ist wie ein Kippbild. Er zeigt die andere Seite derselben Geschichte - eben jene der Llewyn Davise dieser Welt. Und plötzlich zeigt sich: Die Freiheitserfahrung ist an den Erfolg gebunden.

Vor einem halben Jahr kam ein Film heraus, der nachträglich betrachtet wie ein Gegenfilm - oder besser - ein Komplementärfilm dazu erscheint: Searching for sugarman. Das ist die Geschichte eines verkannten Musikers, der in den USA ein hartes Leben als Bauarbeiter führte, ohne zu ahnen, dass er und seine Musik in Südafrika Kultstatus besitzen. Im Unterschied zur erfundenen Filmfigur Llewyn Davis, der ein Musiker ohne Erfolg ist, ist die Geschichte des realen Musikers Sixto Rodríguez die Geschichte eines Erfolgs ohne einen Träger. (Die Fans in Südafrika hielten ihn aus unerfindlichen Gründen für tot.) Ein Typ ohne Erfolg und ein Erfolg, der ohne Typ existiert gewissermaßen. Und im Unterschied zu Llewyn Davis gab es für Rodríguez eine Erlösung: Spät in seinem Leben entdeckte man, dass er noch lebt, und Erfolg und Träger wurden zusammengeführt. So wird die reale Geschichte zum Märchen, während die erfundene Geschichte der Coen-Brüder ein düsteres Kippbild unserer Sehnsuchtserzählungen präsentiert.

Wobei die Düsternis noch weiter geht als das Schlussbild mit "dem einen, der im Licht steht" (Dylan) und "den anderen, die im Dunkeln sind", suggeriert. Die Frage ist doch: Warum dreht man ausgerechnet heute einen Film über das Scheitern, über genau dieses Scheitern?

Llewyn Davis zeigt ein Scheitern ohne Erlösung. Was aber bleibt da vom Aufbruch, vom Abhauen? Es bleibt das, was wir heute eine prekäre Existenz nennen - ein Balancieren am ökonomischen Abgrund. Im Kippbild erweist sich das Bohemeleben als Einübung in die Prekarisierung - in jene Prekarisierung, die heute alle unsere gesellschaftlichen Verhältnisse prägt.

Das Versprechen des Bohemelebens löst sich nur dann ein, wenn es erfolgreich ist. Erzählt man das vom Nichterfolg her, verkümmert das freie und schöne Leben ganz schnell. So gibt es in dem Film keinen einzigen Glücksmoment (außer vielleicht beim Singen), es gibt keine subjektive Freiheitserfahrung, keinen Rausch. Nur in der Jeans-Werbung wird das desaströse Roadmovie zu einem fröhlichen. In der Werbung lebt die positive Version dieses Lebensgefühls weiter.

Das Glücksversprechen eines nichtkommerziellen Lebens ist nicht das Andere des Kommerzes - sondern vielmehr der notwendige und authentische Input, damit das Werkl läuft. Es liefert das positive Lebensgefühl, an das die Werbung andockt. Es ist jetzt natürlich leicht zu sagen, die Werbung pervertiert das. Aber sie pervertiert das nicht. Sie verwirklicht vielmehr dessen Wahrheit. Und die lautet eben: Das nichtkommerzielle Leben braucht Erfolg. Gibt es also ein Glück jenseits der Jeans-Werbung? (Isolde Charim, Album, DER STANDARD, 25.1.2014)