Alles war alt in diesem Hotel, die knarrenden Dielen, die Elektrokabel, die Wasserrohre, die grundsätzlich über Putz liefen. Schon in der Lobby wusste man, dieses Haus ist ein Original. Da saß eine füllige, pinkfarbene Lady aus Pappmaché auf einer Schaukel, über den Köpfen der Gäste schwebend wie ein Damoklesschwert, während der handgeschnitzte Kaminsims an ein europäisches Jagdschloss denken ließ. Das Chelsea. Abgewohnt und wunderschön. Und vor allem: Avantgarde.
Von Arthur Miller bis Leonard Cohen
Bob Dylan zog ins Chelsea, um seiner dort residierenden großen Liebe näher zu sein, Sara Lowndes, der Lady mit den traurigen Augen, wie er sie in einem Lied nannte. Der Dramatiker Arthur Miller mietete sich ein, um sich von einem Ehedrama zu erholen, der Liaison mit Marilyn Monroe, die im Zeichen von Ruhm, Glamour und Drogen stand und ihm letztlich die Kraft zum Schreiben raubte. Das Haus, notierte Miller, vermittle die Atmosphäre eines "furchteinflößenden und optimistischen Chaos" und zugleich das Gefühl, von einer "riesigen, altmodischen Familie" beschirmt zu werden. Stefan Brecht, ein Sohn Bertolt Brechts, arbeitete in seinem Schreibzimmer an Texten über Amerikas alternative Theaterszene. Und im bisweilen beängstigend ratternden Lift traf Leonard Cohen auf die Sängerin Janis Joplin, was zu einer ebenso heftigen wie kurzen Romanze führte.
Nicht nur, dass Cohen der Affäre einen Song widmete, "Chelsea Hotel Nr. 2". Später erzählte er oft mit feinem Humor von der ersten Begegnung mit der Rocklegende. "Suchen Sie wen?", will er Joplin gefragt haben. Ja, Kris Kristofferson, den Country-Musiker. "Kleine Frau, da haben Sie Glück. Ich bin Kris Kristofferson." Im kreativen Milieu des Chelsea sei Cohen überhaupt erst auf seine Ideen gekommen, meint Sherill Tippins, eine New Yorkerin, die gerade eine Art Enzyklopädie des berühmten Etablissements verfasst hat ("Inside the Dream Palace"). Als der Kanadier 1966 dort eintraf, sei sein Erfolg nämlich alles andere als sicher gewesen. "Er war launisch und uncool, trug Anzug und Aktentasche", blendet Tippins zurück, während das Stadtmagazin "Village Voice" Cohens Stimme seinerzeit eher skeptisch als das Produkt "tausender Fässer Whiskey und einer Million Zigaretten" charakterisierte.
Chelsea wird Luxushotel
Das Refugium der Bohème, damit ist es vorbei. Das Immobilienfieber New Yorks hat die Enkel der Besitzer so gründlich angesteckt, dass sie das Kapitel endgültig schließen. Der ziegelrote Koloss an der 23. Straße, ein echtes Wahrzeichen im Südwesten Manhattans, wird renoviert und umgebaut zu einem Luxushotel. Es war abzusehen, der Wendepunkt bereits 2007 erreicht, als der Aufsichtsrat des Chelsea dem legendären Hotelier Stanley Bard den Stuhl vor die Tür setzte.
Stanley Bard, die Seele des Hauses. Fünfzig Jahre der Chef, ein exzentrischer, gutmütiger Mäzen der Künste. Sein Vater David, ein Flüchtling aus Ungarn, hatte das Gebäude 1942 an der Spitze eines Bieterkonsortiums bei einer Zwangsversteigerung erworben. Als Bard junior das Geschäft übernahm, tat er es eher widerstrebend. Was ihn fortan mehr interessierte als schnöder Gewinn, war, dass die Fantasie seiner Mieter nicht litt. War einer einmal knapp bei Kasse, akzeptierte er anstelle von Schecks eben Bilder. Als der Lebensgefährte des texanischen Komponisten Gerald Busby an Aids starb und Busby in einen Teufelskreis aus Drogensucht und Schulden geriet, stundete ihm Bard nicht nur die Miete, sondern fand auch einen Sozialarbeiter, der dem seelischen Wrack half, wieder auf die Beine zu kommen. Kein Wunder, dass noch Jahre nach seiner Entlassung ein breites Banner an der Fassade hing: "Bring back Stanley Bard!"
Vom Wohnhaus zum Hotel
Ganz am Anfang, fast schon vergessen, stand Philip Hubert, ein aus Frankreich ausgewanderter Architekt, der versuchte, durch kommunales Wohnen die Lebenswelten von Arm und Reich zu verbinden. 1884 weihte Hubert das Chelsea Association Building ein, zwölf Stockwerke, damals eines der höchsten Bauwerke New Yorks und obendrein eines, das Pariser Eleganz ausstrahlte. Es gab kleine, bezahlbare Appartements für Arbeiter ebenso wie Zwölf-Zimmer-Fluchten für Betuchte, wobei ein opulent gestalteter Dachgarten dafür sorgte, dass Malocher und Millionäre einander trafen. 1905 wurde das Wohnhaus umfunktioniert zu einem Hotel, bevor es unter Bard zum Mekka der Bohemiens avancierte. Was wiederum nicht bedeutet, dass es eine einzige Erfolgsgeschichte war.
Der Tiefpunkt war 1978 erreicht, als Nancy Spungen, gut bekannt in der Punkszene New Yorks, an den Folgen eines Messerstichs starb und Sid Vicious, ihr rauschgiftkranker Freund, wegen Mordverdachts festgenommen wurde. Da symbolisierte das Chelsea den Niedergang einer Metropole, in der sich mancher aus Angst vor Überfällen nicht mehr traute, U-Bahn zu fahren. "Die Welt fühlte sich auf einmal anders an", schrieb Deborah Spungen, Nancys Mutter, nach der Bluttat. "New York war plötzlich keine aufregende Stadt mehr, mit Jazz und Ballett und Theater. Es war das New York von Sid und Nancy." (Frank Herrmann aus New York, derStandard.at, 23.1.2014)