Vinzent gibt Einblicke in seinen Alltag und will dennoch anonym bleiben.

Foto: Demner, Merlicek & Bergmann

Als Kind konnte Vinzent* das Wort Burg nicht sagen. Dabei wünschte er sich doch eine. Schloss war ein einfacheres Wort für ihn. Haben wollte er aber keines. Mittlerweile freut sich der 25-Jährige über Teile des Kindheitstraums: Dach, Wand, Bett. Denn Vinzent ist seit zwei Jahren obdachlos.

Für über 4.000 Menschen ist er noch mehr. Er ist der Umriss des Gesichts der Obdachlosigkeit in Wien. Auf Facebook berichtet er mehrmals täglich über seinen Alltag. Unter dem Synonym "Vinzi Gast" teilt er Fortschritte bei der Arbeitssuche, lädt Bilder von "Leidenschaftskollegen" hoch, wie er andere Obdachlose nennt und gewährt Einblicke in das Leben ohne eigener Wohnung. 

Viele Rückmeldungen

Der Account "Vinzi Gast" ist eine Kreation der Werbeagentur "Demner, Merlicek & Bergmann", die den Verein Vinzi Gemeinschaft St. Stephan pro bono betreut. Vinzent wurde von Vinzi Rast für diese Aufgabe vorgeschlagen und sagte nach einer Woche Bedenkzeit zu.

Pro Tag erhält er über seinen Internetauftritt etwa 20 bis 30 Nachrichten. Beantworten kann sie der junge Mann nicht alle: "Da würde ich nur noch vor dem Handy sitzen und schreiben", sagt Vinzent und grinst. Trotzdem freut er sich über jede Rückmeldung, die er bekommt. Die sind zu einem großen Teil positiv. Nur hie und da sind auch falsche Jobangebote in seinem Posteingang. "Es kam vor, dass ich vor falschen Adressen gestanden bin", sagt der 25-Jährige. Böse ist er deswegen nicht. Dafür sei das Leben zu kurz.

Eigene Wahrheit

Auf seinem Weg durch Wien hat der junge Mann für jeden Obdachlosen, den er trifft ein Lächeln und ein paar freundliche Worte parat. Nach knapp über zwei Jahren auf der Straße kennt man sich. Freundschaften seien aber nur wenige entstanden. Man könne oft auch nicht unterscheiden, ob sich die Menschen auf der Straße nur zu Zweckgemeinschaften zusammenschließen oder sich tatsächlich mögen. Außerdem würde in der Szene viel gelogen werden. "Das ist aber auch verständlich. Die Wahrheit ist meistens zu schmerzhaft", sagt Vinzent.

Seine eigene Wahrheit begann mit einer kleinen finanziellen Misere, die immer größer wurde. Ignorierte Rechnungen, die Schulden zur Seite geschoben: "Ich frage mich oft, wie ich nur so dumm sein konnte." Vinzent machte sich bereits mit Anfang 20 selbständig, verdiente ein gutes Gehalt, gab das Geld mit vollen Händen aus. Wohnung, Partys, teures Gewand. Nach der Delogierung blieben ihm nur noch seine Sportschuhe, Jeans, T-Shirt und eine Lederjacke. Selbst Freunde und Geschäftspartner wollten oder konnten nicht helfen.

Sechs Tage herumgewandert

Sechs Tage lang wanderte Vinzent durch die Straßen Wiens, obwohl ihm die Zeit in seiner Erinnerung wie ein einziger langer Tag vorkommt: "Ich habe damals nicht wirklich geschlafen, bin auf Parkbänken nur immer wieder eingedöst." Am sechsten Tag spricht ihn schließlich ein Polizist am Westbahnhof an, Vinzent ist so erschöpft, dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten kann. Der Beamte verweist ihn an die Gruft.

Der junge Mann erinnert sich noch gut, als er danach mitten in der Nacht die Treppen zu der Obdachloseneinrichtung hinunterstieg. Der Geruch, die Geräusche und die Männer auf Decken am Boden: all das kann er bis ins kleinste Detail beschreiben. Immer mehr wurde dem 25-Jährigen bewusst, dass er nun obdachlos ist: "Dass ich nichts mehr hatte, wusste ich schon länger aber an das Wort "Obdachlosigkeit" wollte ich nicht denken."

Autorität auf der Straße

Seine Lederjacke verkaufte er schließlich. Auf der Straße würde einem erst bewusst werden, was man wirklich braucht: praktische Kleidung, Nahrung und ein Bett. Außerdem lernte Vinzent den Respekt anderer Leute zu schätzen: "Als Obdachloser ist man mit viel Autorität konfrontiert. Sei es die Polizei, Mitarbeiter in Hilfsstellen oder Passanten auf der Straße, die sich nicht auf der gleichen Ebene wie du sehen", sagt der 25-Jährige. Es überrascht ihn immer noch, wenn man die einfachen Worte "Bitte" und "Danke" im Gespräch mit ihm benutzt.

Nach einem Monat in der Gruft und einem Aufenthalt in einer Einrichtung für schwerkranke Obdachlose nach hohem Fieber, findet sich Vinzent in einem Karussell verschiedener Notschlafstellen. Nach einem knappen Jahr fand er schließlich zur Vinzirast im 12. Bezirk. "Dort musste ich mich erst wieder an frisches Gewand und die tägliche Dusche gewöhnen", sagt Vinzent.

Jobsuche und "Seelentherapie"

Seitdem organisiert sich der junge Mann einen geregelten Tagesablauf. In der Notschlafstelle ist er für die Wäsche in der Früh zuständig, am Vormittag erledigt er entweder Behördengänge oder verbringt eine Stunde vor dem Computer in der Bücherei.

Mit dem Kulturpass bekommt man in Wien die Jahreskarte der Bibliotheken billiger und dadurch unter anderem eine Stunde Internetzugang pro Bibliothek. Per Mail verschickt Vinzent Bewerbungsschreiben und vereinbart Termine mit Personen, die ihre Hilfe bei der Arbeitssuche anbieten. Einmal die Woche redet er bei einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin der "Vinzirast Mittendrin" über seine Sorgen und Wünsche. Auf Facebook nennt er diese Gespräche liebevoll "Seelentherapie".

Mehr als Gespräche will der junge Mann von anderen auch nicht annehmen. Betteln ist ihm zuwider. "Menschen mussten schon immer um Nahrung kämpfen, ich möchte für mein Geld arbeiten gehen", sagt er. Vinzent weiß auch schon, was er sich von seinem ersten Gehalt kaufen würde: "Ich würde jeden Tag Schnitzel essen." Bei diesem Satz muss er lachen. "Denn man kann sich gar nicht vorstellen, wie oft ich in den vergangenen zwei Jahren Nudeln gegessen habe. Die machen zwar voll aber nicht glücklich." (Bianca Blei, derStandard.at, 23.1.2014)