In meinem Dorf in Syrien sind unlängst zwei alte alleinstehende Frauen verhungert. Die Dorfbewohner haben sie nicht verhungern lassen. Sie haben ihnen genau wie allen anderen ihre wöchentlichen Hilfsrationen zugeteilt. Aber das hat nicht mehr gereicht.

Zu arm, um wegzugehen

In meiner Wahlheimat Syrien verhungern Menschen, weil ein faschistisches Regime gezielt Stadtviertel und Dörfer aushungert, die das Regime nicht mehr kontrollieren kann. Wenn die Menschen sich dem Regime nicht beugen wollen, sollen sie eben verhungern. Die beiden alten Frauen hatten das Pech, in einem solchen Dorf zu wohnen. Ich bin sicher, dass sie nicht einmal einen politischen Standpunkt hatten. Sie waren einfach nur zu arm, um weggehen zu können.

Dieses Schicksal teilen sie mit Tausenden in anderen Dörfern und Vororten von Damaskus.

Ich bin gebeten worden, keine Bilder mehr von verhungerten Kindern und Alten zu verbreiten. Dass ich keine Bilder verbreite, bewirkt nicht, dass diese Menschen nicht verhungern. Es bewirkt nur, dass sie lautlos verhungern, ohne unsere Aufmerksamkeit, ohne unsere Solidarität.

Ich kann mich erinnern, vor Jahren über die Gulags der Sowjetunion gelesen zu haben. Über Mütter, die berichteten, wie ihre Kinder vor ihren Augen verhungert sind, wie sie jeden Tag mit großen Augen um ein Stück Brot gebettelt haben, das die Eltern ihnen nicht geben konnten, jeden Tag, jede Stunde, mit immer schwächer werdender Stimme, die zuletzt ganz verstummte.

Ich kann mich erinnern, wie diese Tragödie mich erschüttert hat - eine Tragödie, die sich fernab der Weltöffentlichkeit abgespielt hat.

Nicht handeln müssen

Heute wiederholt sich diese Tragödie der sowjetischen Gulags vor unseren Augen, und wir wollen nicht hinsehen, um nicht handeln zu müssen.

Die Menschen in meinem Dorf - noch 120 Menschen von ehemals 6000 - haben einen Hilferuf ausgesendet. Sie haben die letzten eisernen Rationen verteilt. Die vor einem Jahr eingelagerten Grundnahrungsmittel sind aufgebraucht. Das Essen reicht noch für eine Woche, wenn man nur eine Mahlzeit am Tag isst, vielleicht zwei. Ab dann müssen wir täglich mit weiteren Toten rechnen.

Im Damaszener Palästinenserlager sind bereits 40 Menschen verhungert. Dort trifft es schon längst nicht mehr nur Kinder und Alte.

Wann wird diesem Regime das Handwerk gelegt? Wann?  (Petra Becker, DER STANDARD, 22.1.2014)