Bild nicht mehr verfügbar.

An der Fundan University in Schanghai hissen Absolventen die chinesische Flagge. International sind sie schon vor ihrem Abschluss sehr begehrt.

Foto: REUTERS/Aly Song

Jürgen Henze: "Ende der 1990er-Jahre entschied China, das System massiv auszuweiten. Heute gibt es 29 Millionen Studierende."

Foto: Henze

STANDARD: China ist der weltweit größte Produzent von Forschungsliteratur. Was treibt die Wissenschaft des Landes an?

Henze: Chinas dramatische Expansion im Hochschulsystem ist eine verspätete Reaktion auf die Einschränkungen in der Kulturrevolution. Ende der 90er-Jahre entschied die Regierung, das System massiv auszuweiten. 1998 gab es 3,4 Millionen Studierende, heute sind es 29 Millionen. Gleichzeitig wurde versucht, mit Studiengebühren die hohen Bankeinlagen der Chinesen abzuschöpfen, die sich durch die neue Wirtschaftspolitik ansammelten. Und die Anhebung des Bildungsniveaus sollte Verteilungsungerechtigkeiten mindern. Es war eine sehr rationale Entscheidung, deren Ergebnis allerdings nicht unumstritten ist.

Standard Wie veränderte sich das Verhältnis zum Ausland?

Henze: Das System integriert sich zunehmend in den globalen Wissenschaftsmarkt. Das äußert sich im dramatischen Anstieg der Zahl chinesischer Studierender und Akademiker im Ausland. Die Rückkehrrate erreicht eine Größenordnung, die sich positiv im Land bemerkbar macht. Die Vorstellung, was eine erfolgreiche Universität ausmacht, hat sich verändert. Wenn Sie einen Hochschulpräsidenten in China nach seinem Leitbild fragen, dann ist das Harvard und die US-amerikanische Vorstellung universitärer Leistungskraft.

STANDARD: Auf welchem Niveau bewegt sich die Forschung?

Henze: Für 2013 wird die Anzahl der Promotionen in China auf etwa 120.000 geschätzt. Zur Qualität haben wir keine verlässlichen Aussagen. Man kann nur die Elite der insgesamt mehr als 2500 Universitäten Chinas beurteilen. Eine Promotion in einem naturwissenschaftlichen Fach an einer der zehn besten Unis, etwa der Peking-Universität, ist durchaus mit einer Promotion an einer guten westlichen Uni vergleichbar. Die Geisteswissenschaften sind schwer vergleichbar, weil die Architektur von Wissenschaft und ihre Verschriftlichung zu unterschiedlich sind.

STANDARD: Gibt es trotz des starken Vorbilds der US-Unis etwas, das aus der eigenen Kultur kommt?

Henze: Vielleicht das Verhältnis zwischen Lehrendem und Schüler. Es ist dem Patronageverhältnis zwischen Schüler und Meister im alten mitteleuropäischen Bild ähnlich. Die Privatheit des Schülers rutscht in den Zuständigkeitsbereich des Lehrenden hinein. Es gibt interpersonale Kommunikationskonstrukte - "Face", Gesicht wahren -, die zu besonderen Kommunikationsformen, auch zur situativen Vermeidung offener Kritik führen.

STANDARD: Es gibt das Klischee, dass Chinesen sich stärker als Kollektiv wahrnehmen, die Individualität aber weniger stark aus- geprägt ist.

Henze: Ein chinesischer Soziologe hat Anfang des 20. Jahrhunderts gesagt, es gibt nichts Individualistischeres als einen Chinesen. Die entgegengesetzte Vorstellung gibt es aber genauso. Menschen, die im chinesischen Kulturraum sozialisiert wurden, orientieren sich bei sozialen Handlungen stärker an anderen. Die Wertelandschaft verschiebt sich in den letzten 20 Jahren aber hin zu einer stärker individualisierten Weltsicht.

STANDARD: Das, was der Begriff "Face" bezeichnet, vermittelt zwischen Individuum und Kollektiv?

Henze: "Face" ist die Summe der sozial zugewiesenen Bewertungen. Jede Ihrer Handlungen beeinflusst Ihr "Face" oder das jener Person, mit der Sie handeln oder kommunizieren. Wenn der Dozent den Studierenden despektierlich behandelt, verliert nicht nur der Studierende das Gesicht vor anderen, sondern auch der Dozent. Das kann nur erklärt werden, wenn es mehr als eine rein individualistische Orientierung gibt. "Face" geht weit über Begriffe wie Renommee oder Status hinaus und ist auch mehr als bloße Höflichkeit.

STANDARD: Am globalen Wissensmarkt ist der Einfluss trotz vieler Publikationen gering. Sind Chinas Unis Plagiatsgesellschaften?

Henze: Man kann keine pauschale Antwort geben. Wenn man in einer Arbeit ein nicht ausgewiesenes Zitat entdeckt, ist an der Reaktion des Studenten abzulesen, dass es keine bewusste Täuschung war. Die Penibilität beim Umgang mit verschriftlichtem geistigem Eigentum muss erlernt werden. Die produziert Chinas System nicht intern. Freie Publikationstätigkeit wird verhindert, weil Forscher gezwungen sind, staatliche Maßgaben bei Veröffentlichungen zu erfüllen. Es herrscht der Glaube, dass Erfolg durch Quantität messbar wird.

STANDARD: Wenn ein chinesischer Student in die Welt zieht, was bringt er mit? Und was nimmt er nach der Studienzeit mit nach Hause?

Henze: Was er mitbringen muss, ist Geld und auch kulturelles Kapital - die Bereitschaft, sich an das fremde System anzupassen. Im günstigsten Fall nimmt er neue Denkmuster für China mit: wie eine Welt mit anderen Hierarchien, mit anderen Konzepten von "Face", mit Freiheit im Diskurs funktioniert. Wenn er in Chinas System zurückkommt, muss er diesen Freiheitsimpuls meist wieder zurücknehmen.

STANDARD: Nicht nur ihre Führung zapft die Sparbücher der Chinesen an. Welche Bedeutung haben die Millionen chinesischen Auslandsstudenten als Wirtschaftsfaktor?

Henze: Chinesen machen in Ländern wie Neuseeland oder Großbritannien 20 bis 30 Prozent der Wertschöpfung durch Studierende aus. Es gibt Untersuchungen der britischen Regierung, hinter denen eine gezielte Politik zum Einwerben internationaler und besonders chinesischer Studierender steht. Darin hält man es mittlerweile für gefährlich, sich nur auf Studenten aus China zu konzentrieren, weil es ab 2020 ein Abflauen geben wird. Man empfiehlt, an den arabischen Raum, an Vietnam und Korea zu denken.

STANDARD: Wie sieht Chinas Wissenschaft in der Zukunft aus?

Henze: Eines wird sicher zunehmen: kooperative Formen der wissenschaftlichen Betätigung zwischen chinesischen und nichtchinesischen Forschern. Mehrfachautorenschaften und nachhaltige Netzwerkpflege zwischen den Communitys in China und außerhalb werden ebenfalls zunehmen. Man wird Chinas Forscher öfter auf internationalen Konferenzen antreffen. Alternative Vorstellungen werden das westliche Denken infiltrieren. Was in Fachbereichen wie der Psychologie oder der Kommunikationswissenschaft mit der Suche nach nichtwestlichen Ansätzen begann, wird in Richtung eines gleichberechtig-ten Nebeneinanders verschiedener Ansätze zunehmen.

STANDARD: Ist eine Hegemonie Chinas abzusehen?

Henze: Das dauert noch lange. Ich würde es vorsichtiger ausdrücken: Chinas Wissensproduktion wird in zunehmendem Maße anerkannt werden. Heute sagt kaum ein Erziehungswissenschafter, dass es wichtig sei, chinesische Pädagogik zu kennen. Das ist aber im Begriff, sich zu ändern. (Alois Pumhösel, DER STANDARD, 22.1.2014)