Der seit elf Jahren amtierende türkische Ministerpräsident Recep Tayyip ­Erdogan galt lange Jahre als ein Hoffnungsträger, der sein Land auf einen wirtschaftlich erfolgreichen Reformpfad führen und es zugleich in eine nahöstliche Musterdemokratie unter der Führung seiner gemäßigten ­islamischen AKP umwandeln wollte. Die früheren Regie­rungen waren im Sumpf der Korruption versunken. Vier Militärputsche samt der tür­kischen Besetzung von Nordzypern 1974 hatten die EU-Anbindung immer wieder ­verhindert.

Erdogan war seinerzeit mit dem Versprechen angetreten, die tief verwurzelte Vetternwirtschaft zu beseitigen. Seine Reformmaßnahmen haben das Vertrauen des Auslandskapitals gewonnen und 2005 den Weg zu substanziellen Beitrittsgesprächen mit der Europäischen Union freigemacht. Massive ausländische Investitionen haben den Rückgang der Inflation von 15 Prozent auf neun Prozent bewirkt und die Rückzahlung der Schulden an den Internationalen Währungsfond ermöglicht. Weichenstellungen in der Kurdenpolitik und die Abschaffung der Todesstrafe trugen auch zum Eindruck der Entkrampfung des Verhältnisses zwischen ­Islam und Laizismus bei. 

Zwei dramatische Ereignisse haben allerdings den trügerischen Glanz der demokratischen Fortschritte unter Erdogan schnell und restlos zerstört. Die blutige Niederschlagung der monatelangen Massenproteste im vergangenen Juni gegen den Umbau des Gezi-Parks im Herzen von Istanbul hat Erdogan vor aller Welt als einen autokratischen Herrscher entlarvt. Nirgends sitzen so viele Journalisten und angebliche Terrorverdächtige in Haft wie in der Türkei. Der überwältigende Erfolg seiner Partei 2011 habe den Politiker selbstherrlich werden lassen, so die Diagnose unabhängiger Beobachter.

Die Entdeckung des möglicherweise größten Korruptionsskandals in der Geschichte des Landes Mitte Dezember durch Staatsanwälte und Polizisten hat auch den Machtkampf im islamischen Lager zwischen der Mannschaft Erdogans und den vielen Anhängern des seit 1999 in den Vereinigten Staaten lebenden Predigers Fethullah Gülen bloßgelegt. Drei Ministersöhne und ein Staatsbankchef haben in Schuhkartons Millionensummen aus undurchsichtigen Geschäften und wohl auch aus Bestechungen gehortet. Laut türkischen Medienberichten soll allein der inzwischen zurückgetretene Wirtschaftsminister Schmiergeldzahlungen in der Höhe von rund 40 Millionen Euro kassiert haben. Nach der Verhaftung von rund 50 Verdächtigen hatten die Staatsanwälte und der Polizeichef von Istanbul eine zweite Verhaftungswelle vorbereitet. Der zweite Schlag hätte laut dem Londoner Economist auch Erdogans ältesten Sohn wegen verdächtiger Immobiliengeschäfte erwischen können. 

Der Lack ist ab. Der bedrängte Ministerpräsident hat nach einer Regierungsumbildung "Putschisten"  aus dem Ausland als Drahtzieher beschuldigt, ­zahlreiche Staatsanwälte und Polizisten abgesetzt, Kritiker mundtot gemacht. Der einstige Reformer wird zu einer Hypothek. Angesichts der schwachen Opposition und des diskreditierten und entmachteten Militärs könnte vielleicht der gemäßigte Präsident Gül, dessen Mandat im August abläuft, bei der Entschärfung der Krise mitwirken. (DER STANDARD, 21.1.2014)