Statt hasserfüllt auf "die Anderen" einzudreschen, sollte der ungarische Staat allen seinen Bürgern bessere Lebensbedingungen ermöglichen.

Dieser Tage spricht man wieder von einer jüdischen Frage, als ob "die Juden"  der Grund für reale Probleme wären. Diejenigen, die davon reden, definieren Juden gemäß den Nazi-Rassengesetzen und nicht gemäß ihrer individuellen religiösen Zugehörigkeit, ihrer Selbstidentifikation oder der Verbindung zum Staat Israel.

Es gab niemals eine jüdische Frage in Ungarn, noch gibt es heute eine solche. Im Gegenteil: Was es gab und was es gibt, ist eine antisemitische Frage – Antisemitismus, als politisches Werkzeug.

Durch die ungarische Geschichte lassen sich zwei Staatsmodelle festmachen: eines, das auf Rechten basiert. In modernen Zeiten heißt das, dass jeder Bürger gleichwertiges Mitglied des Staates ist. Das andere Modell dagegen schließt bestimmte Gruppen im Namen einer behaupteten religiösen Einheit aus. Dieser Ausschluss kann von verbaler Gewalt bis zum Mord reichen.

Manche glauben, dass es Zügel für diese Ausgrenzung gibt – solange keine Juden an der Donau aufgestellt und erschossen werden, können sie doch für das Schicksal des Landes verantwortlich gemacht werden, meinen sie. Doch die Geschichte lehrt: Wo Hassreden freie Bahn haben, weil sie offen oder schweigend Zustimmung finden, dort werden auch Taten folgen.

Heute ist Antisemitismus als sozial akzeptierte Form des Diskurses angenommen. Darum liegt das Limit zum Inakzeptablen für viele Ungarn dermaßen niedrig, dass es in anderen Ländern deswegen einen Aufschrei und Skandal geben würde, dies in Ungarn aber als verteidigenswerte Position durchgeht. In Deutschland etwa würde niemand außer den Neonazis auf die Idee kommen, Juden im Parlament oder in den Instituten für Geschichtsforschung zu zählen. Das ist ein beunruhigender Beleg für die Akzeptanz des Antisemitismus.

Aber welcher ungarische Staat wird durch diejenigen beschützt, die diese Ausgrenzung betreiben? Die ersehnte Einheit, die zu schützen vorgegeben wird, ist niemals real. Ungarn war in seiner Geschichte niemals homogen, weder gemäß Religion noch gemäß "Rasse" . Von einer religiösen Einheit konnte man nur rhetorisch sprechen, und noch viel weniger von einer ungarischen "Rasse" . Die ersten historischen Daten beschrieben bereits eine konstante Vermischung der Völker.

Keine "reinen Ungarn" 

Die "Ungarn"  waren immer schon ein gemischtes Volk: Nationalhelden wie János Hunyadi, Miklós Zrínyi or Sándor Petőfi waren nichtungarischer Abstammung. Auch Schlüsselfiguren der "Rassenschützer" -Bewegung"  wie Gyula Gömbös und Ferenc Szálasi waren keine "reinen Ungarn" .

Auf die oft gestellte Frage "Was ist Ungarisch?"  gibt es eine echte Antwort: ein ungarischer Bürger, der sich als solcher identifiziert. Der Gegensatz zwischen Ungar und Jude ist aus jeder Perspektive sinnlos – außer aus jener des Antisemiten. Was Antisemiten durch ihren Antisemitismus gewinnen, ist von vielen analysiert worden: Károly Eötvös, Jean-Paul Sartre und Endre Ady. Signifikant also unter diesen Antisemitismus-Gewinnlern sind jene, die politisches Kapital daraus schlagen. Auch dass es möglich ist, Opfer des eigenen politischen Antisemitismus zu werden, wurde ebenso mehrfach demonstriert.

Vor nicht allzu langer Zeit wurde Csanád Szegedi, der Vertreter der Jobbik im Europäischen Parlament, sehr schnell vom Protektor der Ungarn zum Agenten zionistischer Interessen, als seine jüdischen Wurzeln ruchbar wurden. Der Vorwand für den Sturz von Premier Béla Imrédy (1938–1939) war die jüdische Herkunft seiner Urgroßeltern. Unter seiner Regierung wurde das erste Judengesetz beschlossen und das zweite, das die Juden als Rasse etablierte, vorbereitet. Allein diese beiden Fälle zeigen die Absurdität des ungarischen Antisemitismus, der "Heimat"  und Nation verteidigen soll. Alle, die eine homogene Nation bilden wollen, agieren tatsächlich niemals im Interesse der Nation, sondern in jenem ihrer eigenen Macht.

Die Werkzeuge der Antisemiten sind Hassreden, Ausgrenzung, der Gegensatz zwischen dem "Wir"  und den "Anderen" . Hass, der sich auf Unzufriedenheit und Ignoranz gründet, findet sich in jeder Gesellschaft. Er kann umso leichter mobilisiert werden, je schwieriger die wirtschaftliche Lage ist. Aber die Aufgabe eines Staates kann es nicht sein, den Hass zu schüren, sondern ihn stattdessen zu zerstreuen und dort, wo es notwendig ist, Kundgebungen zu verbieten. Es wäre die Aufgabe desselben Staates, solche Lebensbedingungen zu schaffen, dass seine Bürger nicht die Parolen der Hassredner als Ausweg aus ihrer Hoffnungslosigkeit sehen.

Heute ist es in Ungarn möglich, sich antisemitisch oder gegen Roma zu äußern und Obdachlose zu Feinden zu machen. Die Generation, die jetzt dort aufwächst, lernt, dass es Leute gibt, die keine Menschen sind, die gedemütigt werden können, die von keinen Gesetzen geschützt sind, auf denen man herumtrampeln kann. Im heutigen Ungarn sind die Roma aus dieser Perspektive in der schlechtesten Position. Ihr Fall der Ausgrenzung gerät rasch zu einer Frage von Leben und Tod, weil sie benachteiligt sind, physisch angegriffen oder gar ermordet werden.

Religion und "Rasse" 

Dass dieser Mechanismus der Ausgrenzung nicht mit Religion oder "Rasse"  verbunden ist, kann deutlich dadurch erkannt werden, dass mit wachsender Armut die die Obdachlosen und die Armen selbst als Feinde angesehen werden. Das nationalistische Geschwätz verfängt bei einigen Menschen durch dieses Werkzeug der Ausgrenzung für eine Weile. Es macht glauben, dass es auch Gewinner gäbe. Aber tatsächlich produziert diese Ausgrenzung durch einen Staat auf lange Sicht nur Verlierer. Der calvinistische Bischof Dezső Baltazár formulierte es zwischen den beiden Weltkriegen so: Die Rechte der Juden sind der Maßstab für die Menschenrechte. Dort, wo Juden ihrer Rechte beraubt werden, kann jeder jederzeit seiner Rechte beraubt werden. 

In Ungarn, und in jedem anderen Land, kann man nur dann ein humanes Leben leben, wenn es statt Hass den Schutz von Rechten gibt, statt Ausgrenzung Respekt für die Menschenwürde, statt nationalistischer Slogans Schutz der Bürgerrechte. Wahre Patrioten versuchen nicht jene zu finden, die man von "den Ungarn"  aus­schließen könnte. Sie wollen stattdessen einen Weg für den Staat finden, der seinen Bürgern ein lebenswertes Leben ermöglicht. (DER STANDARD, 20.1.2014)