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In Woronesch herrschte bei relativ milden minus 12 Grad großer Andrang. Dreimal müssen die Gläubigen im eiskalten Wasser, dem heilende Kräfte nachgesagt werden, untertauchen.

Foto: AP/lovetsky

Tief verschneit liegt die kleine gelbe Marienkirche mit den fünf grünen Kuppeln am Admiralitätsufer des Woronescher Stausees. Den ganzen Tag schon hat der Himmel seine weiße Pracht über der Millionenstadt ausgeschüttet. Jetzt, gegen Mitternacht, ist das Thermometer auf minus zwölf Grad abgesackt, und immer noch fegt der Wind mit unbarmherziger Gewalt den Schnee aus den Wolken.

In der Kirche hält Vater Artjemi in weißer Robe die Mitternachtsmesse. Das Gotteshaus ist so voll, dass ein Kosake dem Geistlichen den Weg ebnen muss, als der sich mit seinem Weihrauchfass aus dem ikonengeschmückten Altarraum in den Gemeindesaal aufmacht, um Kirche und Gläubige zu segnen. "Alles Gute zum Fest", grüßt der Geistliche die Menge.

Alljährlich wird am 19. Jänner in Russland das Epiphanias-Fest begangen. Es ist einer der ältesten orthodoxen Feiertage mit festem Datum und geht auf die Taufe Jesu zurück, der als bereits 30-jähriger Mann von Johannes dem Täufer im Fluss Jordan getauft wurde. Aus dem Wasser steigend soll Christus den Heiligen Geist in Gestalt einer Taube erblickt haben.

Wasser mit Heilkraft

In Russland wird dem Glauben nach an diesem Tag das Wasser aller Flüsse und Seen rein. Mehr noch: Es soll sogar über heilende Kräfte verfügen. Und so ist kurz nach Mitternacht nicht nur die Kirche, sondern auch das Ufer des anliegenden Stausees in Woronesch überlaufen. Hunderte Menschen haben sich eingefunden. Sie stehen vor einem schmalen Holzsteg, der über das Eis führt. Am Ende des Stegs ist ein Loch für die Taufe, der sogenannte Jordan.

Eigentlich müsste Vater Artjemi erst das Wasser mit einem Silberkreuz weihen, doch vielen Eisbadern in Woronesch fehlt offenbar die Geduld, um auf den Kreuzzug zu warten, der sich nach der Mitternachtsmesse zum Eisloch begeben soll. In langer Schlange stehen sie vor dem Jordan, lediglich mit Handtuch und Badesachen bewaffnet; Alt und Jung, Frau und Mann. Obwohl Kirche und Mediziner einhellig Alkoholgenuss vor dem Eisbad verbieten, haben dabei nicht wenige in Woronesch mit Wodka vorgeheizt. Die meisten ziehen zum Aufwärmen allerdings dann doch heißen Tee vor, der in speziell für das Epiphanias-Fest aufgebauten Zelten zusammen mit Piroggen verkauft wird.

Dreimal müssen die Gläubigen untertauchen. Vor dem Gang ins Wasser bekreuzigen sie sich, wohl auch, um sich Mut zu machen. Für alle Fälle sind Rettungshelfer am Eisloch im Einsatz und ziehen die Gläubigen nach der Prozedur schnell wieder aus dem Wasser.

Dann geht es im Laufschritt ans Ufer. Alexej, ein etwa 40-jähriger Mann, hat das Eisbad schon hinter sich. Seine Frau hilft ihm beim Abreiben. Warum er nicht auf den Priester gewartet habe? "Das Wasser ist jetzt schon gut", sagt Alexej. Er jedenfalls fühle sich großartig.

Andrej hingegen zieht sich gerade aus, um sich in die Schlange einzureihen. Auch er ist mit Anhang gekommen. Die Sachen übergibt er an eine Freundin, dann schnappt er sich das Handtuch. "Ich bin das erste Mal hier", gesteht er, "ich hoffe, dass ich mich mit dem Eisbad von meinen Sünden reinwaschen kann. Davon haben sich in dem Vierteljahrhundert, das ich nun auf der Welt bin, ja schon genug angesammelt", sagt der junge Mann halb ironisch, halb im Ernst. Die beißende Kälte macht Andrej keine Angst: "Es ist heuer ja eher wärmer als gewöhnlich um diese Zeit", sagt er.

"Täuferfrost"

Tatsächlich sinken die Temperaturen rund um das Kirchenfest in Russland regelmäßig auf Tiefstwerte. Die Russen sprechen vom traditionellen "Täuferfrost" - und ziehen trotzdem oder gerade deswegen alljährlich ans Eisloch. Doch nicht alle kommen in dieser Nacht zum erhofften Bad. Ein etwa 50-jähriger Mann in der Uniform eines Fackelträgers - in Woronesch hat am gleichen Tag die Olympische Fackellauf für Sotschi Station gemacht - zieht sichtbar enttäuscht ab. "Die Schlange ist mir zu lang. Da erfriert man ja, ehe man eintaucht", sagt er.

Für ihn wie für alle anderen Russen, die sich grundsätzlich nicht zum Eisbad überwinden können, gibt es einen Trost: In der Kirche hat Vater Artjemi inzwischen das Wasser gesegnet. Die Gläubigen können es mitnehmen. Angeblich ist es rein, unbegrenzt haltbar und verfügt über heilende Kräfte. Viele Familien bewahren es daher das ganze Jahr lang auf, ehe sie es beim nächsten Epiphanias-Fest erneuern. (André Ballin aus Woronesch, DER STANDARD, 20.1.2014)