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Erwachsenes Wunderkind: Jewgenij Kissin.

Foto: EPA/URS FLUEELER

Wien - Die dritte Zugabe, Chopins Grande Polonaise brillante in As-Dur, war unglaublich. Beim Hauptthema, dem A-Teil, subtrahierte Jewgenij Kissin aus dem Themencharakter alle Eleganz und alles Funken sprühende Feuer: Die Musik war gänzlich bäuerliche Kraft und Stolz. Es war eine Polonaise, behäbig getanzt in festen Stiefeln, mit baumstammdicken Beinen und mächtigem Quadrathintern. Bei jeder Eins hatte man das Gefühl, dass ein schwerer Kieskahn auf hoher See gegen eine riesige Welle brettert.

Jeder im Publikum stand danach auf. Es war eine Interpretation, die nicht alles zeigte, was in diesem Stück drinsteckt (Horowitz präsentierte es in seinem späten Musikvereinskonzert nuancierter), aber sie kehrte einen Aspekt so eindringlich hervor, dass dem Ganzen eine Einzigartigkeit innewohnte.

Der 1971 geborene Pianist Jewgenij Kissin ist, wie Lang Lang, ein den Jahren nach erwachsenes Wunderkind. Ist der Chinese - ähnlich wie Schlagzeuger Martin Grubinger - ein offen dem Publikum zugewandter, spielfreudiger Künstler, so muss man Kissin als dessen Gegenteil beschreiben: Tausend Dämonen der Nervosität zerren andauernd an seinen Gesichtszügen, flackern, irrlichtern rastlos in seinem Mienenspiel.

Dies hindert den Russen an der vollen Entfaltung seiner Fähigkeiten: Überzeugend ruhige, gelöste Stimmungen wollten ihm etwa im zweiten Satz von Schuberts D-Dur-Sonate D 850 nicht gelingen, nicht zu Beginn und nicht in dessen Ausklang. Der erste Satz lief wie auf Schienen, war solide und abwechslungsreich gestaltet; im Scherzo zeigte sich der Russe freier, hatte beim Hauptthema seinen Spaß am Wechsel zwischen ritterlichem Impetus und burgfräuleinhaft zierlich-zirpenden Höhen.

Die allerfeinsten, zartesten Farben misst man im langsamen ersten Satz von Alexander Skrjabins zweiter Sonate, aber grundsätzlich ist Kissin in der spätromantischen Klavierliteratur in seinem Element: Das Werk bot großes Gefühlskino, vor allem der zweite Satz brachte heftigste emotionale Eruptionen mit sich.

Es folgten sieben ausgewählte Etüden aus Skrjabins Werkgruppe Opus 8. Ähnlich wie Chopin, der die technischen Studienstücke aus der Czerny' schen Geiselhaft gleichförmiger Langeweile entriss, formt Skrjabin seine Etüden zu Charakterstücken. Kissins klug komponierte Folge aus dynamischen und kontemplativen Werken mündete bravourös in die mächtig sich auftürmende dis-Moll-Etüde. Großer Applaus. Man wünschte ihm, dass er sich etwas gelöster daran erfreuen könnte. (Stefan Ender, DER STANDARD, 18.1.2014)