Schwierige erste Jahre: "Die größte Entlastung für die Mutter oder den Vater ist der Partner. Hier kommt es typischerweise zu Verteilungskonflikten", sagt Psychologe Bernhard Kalicki.

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"Für die berufliche Rolle, den zweiten großen Lebensbereich, investieren wir ein Jahrzehnt, um uns über Ausbildung zu qualifizieren. In die Elternrolle stolpern wir hinein", sagt Kalicki.

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STANDARD: Es gibt so viele Ratgeber wie nie, gleichzeitig fragen sich viele Eltern, was in Erziehungsfragen richtig und falsch ist. Woher kommt die Verunsicherung?

Kalicki: Wir beobachten generell eine Liberalisierung und Pluralisierung der Gesellschaft. Erinnern Sie sich an Ihre eigene Erziehung, da bestand in der Gesellschaft ein breiter Konsens darin, was Kinder dürfen und wie Erziehung auszusehen hat. Es gab natürlich Unterschiede in Erziehungsstilen zwischen verschiedenen Elternhäusern. Aber im Moment gibt es eine  sehr große Vielfalt, die zu Verunsicherung führt.

STANDARD: Die Liberalisierung der Lebensformen ist doch prinzipiell eine gute Sache.

Kalicki: Ja, aber sie führt eben zu einer gewissen Orientierungslosigkeit. Bei der Elternschaft kommt dazu, dass wir uns nicht darauf vorbereiten. Für die berufliche Rolle, den zweiten großen Lebensbereich, investieren wir ein Jahrzehnt, um uns über Ausbildung zu qualifizieren. In die Elternrolle stolpern wir hinein. Wenn dann Fragen der Erziehung anstehen, beschäftigen wir uns mit unserer Biografie, mit dem, was wir an Erziehung erlebt haben. Wir machen häufig auch Entwürfe, die im Kontrast zu dem definiert werden, was wir selbst erlebt haben. Ohne dass klar ist, wie man das umsetzt und wie tauglich das ist.

STANDARD: Beispiel Sicherheit: Warum verlieren viele Eltern das Gefühl dafür, was eine wirkliche Gefahr für das Kind ist und was eine Herausforderung, die ein Kind braucht, um zu lernen?

Kalicki: Viele Studien zeigen, dass Kinder im Bereich der motorischen Kompetenz zu wenig gefordert werden, dass sie zu wenige Möglichkeiten bekommen, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Und es gibt Gefahren, die den Eltern durch die Medialisierung der Gesellschaft präsenter sind. Denken Sie an Kindesmissbrauch: Wir impfen unseren Kindern ein, nicht mit Fremden mitzugehen. Was als "Helikopter-Eltern" beschrieben wird, dieses permanente Beaufsichtigen, rührt auch daher, dass uns viele Gefahren gegenwärtiger sind. Natürlich sind die Bedingungen des Aufwachsens, also das, was Kindheit ausmacht, auch ein Spiegel unserer Gesellschaft ist. Es werden ja nicht nur Kinder mit dem Auto in den Kindergarten gefahren: Wir selbst bewegen uns auch kaum mehr.

STANDARD: Welche Rolle spielt hier die Gestaltung unserer Städte?

Kalicki: Schauen Sie sich an, wie unsere Städte aussehen: Da gibt es kaum noch Nachbarschaften, wo jemand ein Auge auf ein Kind hat. Wo Kinder gut aufgehoben sind, wenn sie draußen sind. Wir haben verkehrsgerechte Städte und Kommunen. Das sind Faktoren, die dazu beitragen, dass Kinder marginalisiert werden. Kinder bekommen bestimmte Räume zugewiesen, wo sie sich entfalten können – aber: Das sind organisierte, geschützte Räume. Damit Eltern in ihrer Sorge entlastet sind, um erwerbstätig sein zu können.

STANDARD: Wie ließen sich Freiräume für Kinder erweitern?

Kalicki: In Waldkindergärten werden diese Freiräume beispielsweise bewusst geschaffen. Aber es bleibt die Frage, ob man den Strukturwandel unserer Gesellschaft damit kompensieren kann. Was früher üblich war, dass Kinder beiläufig lernen können, dass sie an Alltagspraktiken teilhaben können, das ist wertvoll.

STANDARD: Sehen Sie die Gefahr, dass Kinder überbehütet werden – bei gleichzeitigem Verlust an Freiräumen?

Kalicki: Es gibt Anzeichen dafür. Kinder sind seltener geworden, damit hat das einzelne Kind für die Eltern eine andere Bedeutung bekommen. Was ist das Tolle, das Kinder bringen? Da gibt es unterschiedliche Facetten: In armen Gesellschaften spielt der ökonomische "Wert von Kindern" eine wichtige Rolle – die Einkommenssicherung der Eltern im Alter. In modernen Gesellschaften sehen wir, dass die emotionale Funktion für die Eltern wichtiger ist, also: die Bestätigung, dem Leben Sinn zu geben oder ein Gegenüber zu haben, das ich mitforme, mit dem ich in einer intensiven Beziehung bin. Diese Funktion erfüllt aber schon ein Kind. Dafür brauche ich nicht zwei, drei oder vier.

STANDARD: Stichwort: das Kind als "Projekt", das möglichst früh gefördert werden soll, um nichts dem Zufall zu überlassen ...

Kalicki: Dass der Lebenslauf, die erzielte gesellschaftliche Position sehr stark vom Bildungsverlauf abhängt, ist in allen Schichten angekommen. Wir haben Eltern in einer unserer Studie nach ihren Bildungserwartungen an den Kindergarten gefragt. Die Daten zeigen, dass Eltern mit niedriger Bildung mehr Wert auf die Vermittlung schulnaher Vorläuferkompetenzen legen, also die Grundlagen für Lesen, Schreiben und Rechnen. Die gebildeteren Schichten können da gelassener sein, weil sie mittlerweile wissen, dass Bildung ohnehin sozial vererbt wird – die Familie das selbst leistet.

STANDARD: Ein Kind verändert die Partnerschaft. Sie sagen, dass das Kind, das die Beziehung zwischen den Eltern eigentlich festigen soll, häufig das Gegenteil bewirkt.

Kalicki: Kinder sind kein Beziehungskitt. Vorliegende Studien zeigen, dass Kinder die Qualität der Partnerschaft nicht ändern. Oder anders gesagt: Unglückliche Paare werden durch ein Kind nicht glücklicher. Die Geburt des ersten Kindes ist eine belastende, eine stressige Zeit für Paare. Dazu gehört die neue Rolle, das Kind, das versorgt werden muss, die Abhängigkeit. Und die Situation, dass Eltern auf sich als Paar zurückgeworfen sind. Wir haben nicht mehr das Dorf, den Familienverband, der das Kind miterzieht. Die größte Entlastung für die Mutter oder den Vater ist der Partner. Hier kommt es typischerweise zu Verteilungskonflikten. Das macht sich fest an der Berufstätigkeit, an der Erziehung und an der Haushaltsführung und der Frage „Wer tut was?". Kinder lassen Eltern in traditionelle Rollen fallen: Der Mann als Brotverdiener, die Frau kümmert sich um Haushalt und Familie.

STANDARD: Das betrifft auch Eltern, die fortschrittlich und gleichberechtigt mit der Rollenverteilung umgingen. Bis dahin.

Kalicki: Dieser Rückfall von kinderlos egalitären Paaren in traditionelle Muster ist eine Realität.

STANDARD: Warum ist das so?

Kalicki: Das hängt mit romantisch verklärten Bildern von Mutterschaft, Elternschaft und Familie zusammen. Man muss sich nur ansehen, welche Illusionen sich Paare bei der ersten Schwangerschaft aufbauen über das kommende Familienleben. Und natürlich gibt es weiterhin ökonomisch gute Gründe, warum die Frau aus dem Beruf ausscheidet oder unterbricht. Männer sind im Durchschnitt einige Jahre älter, haben meist ihre Ausbildung abgeschlossen, stehen höher in der Karriereleiter und verdienen mehr. Wir haben auch das Bild, dass die Vollerwerbstätigkeit zur Normalbiografie des Mannes gehört. Es gibt viele Gründe, warum wir trotz des Einstellungswandels zur Frage, was gerecht ist, auf der Verhaltensebene nach wie vor traditionelle Muster finden.

STANDARD: Eine Ihrer Studien hat gezeigt, dass mit Kindern die Wertschätzung gegenüber dem Partner sinkt. Warum?

Kalicki: Paaren, die diese belastende Lebensphase als eine Situation verstehen, die es durchzustehen gilt, gelingt es besser, die Liebe, Wertschätzung und eine wertschätzende Kommunikationskultur zu erhalten. Das Dumme beim Paarklima ist, dass insbesondere das destruktive Streiten nur eine Richtung kennt – und zwar hin zu einer Verschlechterung. Wenn einmal eingerissen ist, dass man sich anschreit, gewisse Ausdrücke gebraucht, ist es sehr schwierig wieder zu einem konstruktiven Umgang zurückzufinden. Ein Beispiel: Ein kinderloses Paar, das streitet. Da kann es sein, dass einer der beiden aus dem Raum geht, Luft schnappt, drei Stunden weg ist. Hat das Paar ein Kleinkind, heißt das automatisch: Der eine Partner überlässt dem anderen die Arbeit, die Sorge ums Kind. Daher ist es extrem wichtig, dass sich die Partner als Team verstehen, sich wechselseitig entlasten, damit der Alltag gut bewältigt werden kann.

STANDARD: Wie kann dieser Dynamik gegengesteuert werden?

Kalicki: Hilfreich ist es, bewusst einzuplanen, im Gespräch zu bleiben. Was sind die Wünsche des anderen, wie geht es ihm oder ihr? Zu einem konstrukiven Weg, auftauchende Unzufriedenheiten angehen, gehört es, diese frühzeitig und in einem günstig gestalteten Gesprächsrahmen anzusprechen. Im Alltag mit kleinem Kind geht genau dies oft unter, weil so viele andere Aufgaben anstehen. Und wenn Luft da ist, wollen die einzelnen Partner erst einmal durchatmen und sich erholen. Dann ist es anstrengend, heiße Eisen anzupacken. Auch der Austausch mit Paaren in einer ähnlichen Situation ist oft hilfreich. Da wird nämlich deutlich, dass es ganz ähnliche, sprich: strukturelle Probleme sind und keine individuellen. Der Schluss, dass der üble Charakter meines Partners oder meiner Partnerin Ursache ist für die eigenen Probleme, wird unplausibel, wenn ich sehe, dass andere Paare mit den gleichen Problemen ringen. (Lisa Mayr, Peter Mayr, DER STANDARD, 17.1.2014)