"Er ist alles geworden", titelte das rechte Kemalistenblatt Sözcü diese Woche zum scheinbar allmächtigen türkischen Premier: Staatsanwalt Tayyip, Richter, Rechtsanwalt, Aufseher, Doktor, Ingenieur, Kapitän, Soldat, Imam ...

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Nur mal so akademisch gedacht und – wie Svante Cornell, Direktor des Central Asia-Caucasus Institute an der Johns Hopkins Universität in Washington, es ausdrückte – um den "analytischen Horizont zu erweitern": Kommt die Türkei ohne Erdogan? Wird der so mächtige türkische Regierungschef letztendlich über die Korruptionsaffären stürzen, deren juristische Aufarbeitung er zu ersticken versucht? Zwei Diskussionsveranstaltungen haben diese Woche in Washington die innenpolitische Krise in der Türkei und ihre Bedeutung für die US-türkischen Beziehungen beleuchtet. "A Post-Erdogan Turkey? Implications for the US", hieß die eine; "Regional Perceptions of Turkey in the Middle East" die andere.

Beginnen wir mit dem bekannteren Thema: dem Bild der Türkei in der arabischen Welt, inklusive Iran. Der Istanbuler Think Tank Tesev stellte in Washington seinen nun auf Englisch übersetzten Bericht vom Dezember 2013 vor. Die Autoren der Studie – Mensur Akgün und Sabiha Gündogar – kamen zum Center for American Progress; Michael Werz, ein Türkeikenner des Instituts, moderierte, Spencer Boyer, ein früherer stellvertretender Staatssekretär für Europa und Eurasien, gab an, was die US-Regierung gern in der Türkei hätte, aber nicht mehr so recht hat: "einen starken, einflussreichen und vorhersehbaren Partner".

Gündogar und Akgün stellten die Ergebnisse dieser mittlerweile fünften Studie zum Türkeibild dar (Interviews mit 2800 Personen zwischen August und September 2013 in 16 Ländern der Region von Tunesien bis Syrien und von Iran bis zu den Golfemiraten; interessanterweise nicht in Israel): Die Türkei ist in der Gunst der arabischen Welt gefallen, vom ersten Platz 2011 und 2012 auf den dritten hinter den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien. Ausschlaggebend dafür war Erdogans Absturz in Ägypten, wo er sich bei einem Besuch 2011 als Israel-Gegner und muslimischer Wirtschaftswundermann feiern ließ und 86 % die Türkei toll fanden; nach einem Jahr Muslimbruder-Präsidentschaft, Putsch gegen Mursi und Erdogans Festhalten am gestürzten Staatschef in Kairo ist die Bewunderung für die Türkei in Ägypten auf 38 % gefallen. Nach den Erfahrungen, die die Ägypter mittlerweile mit ihren neuen Putschgenerälen gemacht haben, würden die Antworten zur Türkei heute wohl anders und günstiger ausfallen, räumte die Tesev-Forscherin Sabiha Gündogar ein.

"All talk, no teeth"

60 Prozent der Befragten wünschten sich gleichwohl eine größere Rolle der Türkei in der arabischen Welt. Die Idee von der Türkei als einem "Modell" – demokratisch, marktwirtschaftlich und islamisch regiert – sei also durchaus noch intakt, meinten die Autoren der Studie. Doch schaut man hinter den statistischen Durchschnitt, bleibt im Ergebnis wenig vom Selbstbild der Türkei als neuer Regionalmacht und großem Problemlöser: "All talk, no teeth", hieß es diese Woche in einem Kommentar von Abdulrahman al-Rashid, dem Direktor von Al Arabiya TV in Dubai, zu Erdogan und der Enttäuschung der Araber; der türkische Regierungschef machte wortreiche Ankündigungen zum Ende des Assad-Regimes in Syrien oder von Israels Seeblockade des Gazastreifens, aber ließ nie Taten folgen. Erdogan selbst überraschte während seiner jüngsten Ostasienreise mit einem Eingeständnis; ob er es ernst gemeint hat oder auch vor einem türkischen Jubelpublikum wiederholen würde, ist gleichwohl unsicher: Die Türkei habe "keine Ambitionen, eine regionale und globale Macht zu werden", sagte Erdogan Anfang Jänner in Japan.

Mensur Akgün, der Kolumnist und Politik-Professor an der Istanbul Kültür Universität ist, zeigte sich vorsichtig mit Kritik an der türkischen Außenpolitik. Der "Null Probleme mit den Nachbarn"-Kurs von Ahmet Davutoglu sei ein Slogan und eine Utopie, die man der regierenden AKP als Verdienst anrechnen sollte, meinte er. Die Türkei habe immer die Vorstellung gehabt, dass sie von Feinden umgeben wäre, die das Land zerstückeln wollten; die "Null Probleme"-Politik war, so gesehen, eine Abkehr von dieser negativen Einstellung.

Akgün und Gündogar wiesen schließlich auf zwei ambivalente Ergebnisse ihrer Studie zum Türkeibild in Nahost und am Golf hin: Erdogans zeitweise große Popularität beruhte im wesentlichen auf seiner anti-israelischen Rhetorik und weniger auf positiven Leistungen, die von der "arabischen Straße" wahrgenommen würden (al-Rashid von Arabiya TV kommt zu einem ähnlichen Schluss: Vor Erdogan war eben Saddam Hussein der große Held der arabischen Welt, weil er ein "paar Raketen" nach Israel abgefeuert hatte; oder – aus demselben Grund – Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah). Der zweite widersprüchliche Befund: Die Befragten in den 16 Ländern der Region lobten wohl die demokratische Verfassung der Türkei und das Prinzip des Rechtsstaats, gleichzeitig aber erklärten 76 Prozent, dass das Recht (und die Rechtsprechung) seine Legitimität aus der Religion beziehe.

Der 17. Dezember

Was die "arabische Straße" von den Korruptionsvorwürfen der türkischen Staatsanwälte gegen die Regierung Erdogan hält, den Ministerrücktritten und dem putsch-ähnlichen Vorgehen des Premiers gegen Justiz und Exekutive im Land seit dem 17. Dezember, lässt sich derzeit nur mutmaßen. Das Interesse an der türkischen Innenpolitik mag in der arabischen Welt im Allgemeinen geringer sein als in Brüssel, wo die Interna des EU-Kandidaten genauer verfolgt werden. Erdogans Verschwörungstheorien von der "ausländischen Hand" und der "Zins-Lobby", die alle an seinem Sturz arbeiten, finden in Nahost wohl leichter Gläubige; andererseits hat das Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen – der offensichtliche Gegner Erdogans – überall in der Region Anhänger.

Geschwindigkeit und Ausmaß der innenpolitischen Krise in der Türkei haben auch langjährige Kenner des Landes überrascht. Prognosen lassen sich nicht einmal für die nächsten Tage machen, geschweige denn Monate. "Was im Moment in der Türkei geschieht, versteht niemand wohl wirklich zur Gänze", stellte Halil Karaveli fest, Chefredakteur des Turkey Analyst und Forscher am Central Asia-Caucasus Institute. Wie eine Türkei nach Erdogan aussehe, hänge zunächst einmal davon ab, wie und wann die Erdogan-Ära ende, meinte Alan Makovsky, ein anderer Türkei-Experte und langjährige Mitarbeiter des außenpolitischen Ausschusses im US-Repräsentantenhaus. Die staatlichen Institutionen in der Türkei fallen derzeit auseinander, fasste Svante Cornell bei der Diskussionsveranstaltung an der Johns-Hopkins-Universität zusammen; gleichzeitig arbeitete der türkische Premier im "survival mode", scheinbar zu allem bereit, um seine Macht zu behalten, auch auf Kosten der Beziehungen zu den Verbündeten der Türkei. (Erdogan drohte kurz nach den Polizeirazzien vom 17. Dezember indirekt, den US-Botschafter aus dem Land zu werfen; Erdogans Gegner Fethullah Gülen lebt seit 1999 im selbstgewählten Exil in den USA)

Neue Sicht auf die Türkei

"Wir müssen unsere gängigen Vorstellungen von der Türkei überholen. Säkulare gegen Islamisten, Erdogan gegen das Militär – das alles ist vorbei", erklärte Cornell. Für den Westen sei die Türkei schwerlich noch ein stabiler Partner in einer problematischen Region. "Die Türkei ist selbst ein Problem geworden."

Karaveli sieht den 17. Dezember, als die türkische Polizei die drei Ministersöhne und andere, der Regierung nahe stehende Geschäftsleute auf Anordnung der Staatsanwaltschaft festnahm, nur als eine Etappe in dem Konflikt zwischen dem Gülen-Netzwerk und der Erdogan-Regierung. Vor dem 17. Dezember war Erdogans Entscheidung, die Nachhilfeschulen in der Türkei zu schließen – das große Rekrutierungsbecken der Gülenisten und eine ihrer Einnahmequellen. Dem wiederum ging der 7. Februar 2012 voran – jener Tag, als ein – mutmaßlich dem Netzwerk nahe stehender – Staatsanwalt die derzeitige und frühere Führung des türkischen Geheimdiensts MIT zur Vernehmung vorgeladen hatte. Erdogan hatte dies als Schlag gegen seine eigene Person verstanden; damals ging es um die geheimen Verhandlungen zwischen MIT und PKK, gegen die Gülen war.

Die Gülenisten bestreiten, dass sie heute direkt in die Auseinandersetzung zwischen Justiz und Regierung involviert seien. Sie geben aber zu, dass sie mittlerweile Partei sind in diesem Konflikt, in dem sie für den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung und die Medienfreiheit einträten. Für die weitere Entwicklung des Machtkampfs in der Türkei sah Cenk Sidar, ein in Washington ansässiger Analyst und ein Berater des sozialdemokratischen Oppositionsführers Kemal Kilicdaroglu, drei Optionen: das Mitte-Rechts-Szenario, bei dem eine Abspaltung der regierenden AKP Erdogan die Macht aus der Hand nimmt; die Mitte-Links-Option mit der größten Oppositionspartei CHP, Kilicdaroglus Partei (sie ist Umfragen zufolge derzeit weit von einer Mehrheit entfernt); eine Koalition von Akteuren – vielleicht einer AKP-Abspaltung mit den Rechtsnationalisten der MHP oder den Sozialdemokraten der CHP.

Der "schuldige Mann"

Aber dann gibt es immer auch noch die Option "Erdogan". Sein politisches Ende mag dieses Jahr kommen oder 2015 (bei den bisher angesetzten regulären Parlamentswahlen) oder gar erst 2023, dem Ende einer hypothetischen zweiten Amtszeit als türkischer Staatschef, der er gern werden möchte. "Er ist ein furchterregender Rückschläger", so beschrieb Alan Makovsky die Kämpferqualitäten Erdogans. Doch die Zeit, wo ihm scheinbar alles in der Politik gelang, sei vorbei. "Er handelt wie ein verzweifelter und vielleicht wie ein schuldiger Mann", stellte Makovsky fest. Ähnlich wie schon bei den Gezi-Protesten hätte es Erdogan nicht viel gekostet, sich ruhig zu verhalten, die Justiz ihre Arbeit machen lassen und dann vielleicht diskret die personellen Änderungen bei Polizei und Staatsanwaltschaft durchzusetzen, die er jetzt mit so viel Lärm betreibt. Doch wie im Fall von Gezi schürt Erdogan jetzt nur die Spannungen im Land. Eine Prognose wagte Makovsky doch: Kann die AKP bei den Kommunalwahlen am 30. März Istanbul halten und landesweit auf 40 Prozent kommen, dann stehe Erdogan erst einmal wieder gut da. (Markus Bernath, derStandard.at, 17.1.2014)